60 Jahre Verblendung

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Vertriebenencharta soll Gründungsdokument der Bundesrepublik sein

März-April 2011

Mit großer Neugier griff ich nach dem Buch von Erika Steinbach »Die Macht der Erinnerung«, das sie Peter Glotz, ihrem Mitkämpfer um das »Recht der Vertriebenen«, wie sie ihn würdigt, gewidmet hat. In der Einleitung resümiert sie ihre politische Biografie und ihre »Bekehrung« zu ihrem Engagement zu »Flucht und Vertreibung«. Sentimental beschreibt sie diese Szene: »Eine ›alte Dame‹ hatte bei einem Vertriebenentreffen einem jungen Journalisten zum ersten Mal in ihrem Leben offenbart, was ihr alles widerfahren war. Sie ist vielfach über Tage hinweg immer wieder brutal vergewaltigt worden, keines der vier Kinder hat überlebt, drei wurden ermordet, eines ist verhungert und ihr Mann ist im Krieg gefallen. Allein diese fürchterlichen Erfahrungen könnten Beweggrund genug sein, sich der Menschen und dieses Teils deutscher Geschichte anzunehmen. Meine Motivation speist sich bis heute aus der unglaublichen Antwort, die der betagten Frau von dem Journalisten gegeben wurde. Er antwortete flapsig, dass es ihr doch nicht geschadet habe, denn sie sei ja trotzdem über 80 Jahre alt geworden.«

Aus diesem Erlebnis fand sie ihr politisches Thema. Sie denkt langatmig über Heimatliebe, Heimatland, Heimaterde, Heimatort der Geborgenheit etc nach. Ich hatte eigentlich schon keine Lust mehr weiter zu lesen, denn es war zu erwarten, nichts Neues zu erfahren. Mit einem ständigen namedropping, wie z. B. Herta Müller, György Konrad, Imre Kertesz, Freya Klier, Michael Wolff–sohn…, die sie ermutigt haben und ihre Arbeit unterstützt haben berichtet sie von dem großen Interesse von Politikern aller Fraktionen, außer der Linken, an ihrem großen Entwurf, in Berlin ein Dokumentations- und Erinnerungszentrum zu errichten und zum 50. Jahrestag des Jubiläums der Charta der deutschen Heimatvertriebenen den 5. August als bundesweitem Gedenktag für die Opfer der Vertreibung im deutschen Kalender festzuschreiben. Die Folie sind die Initiativen des Bundes der Vertriebenen. Ursachen und Folgen der Vertreibung benennt sie nicht. Es ist sehr interessant, was sie auch sonst nicht nennt. Zum Beispiel der Generalplan Ost wird von ihr überhaupt nicht erwähnt. Dass in ihm die wichtigsten Interessen des Hitlerfaschismus und der herrschenden Finanzelite festgehalten waren, die Flucht und Vertreibung verursacht haben und zwar zuerst von Juden und Slawen. Doch in ihrer Sicht sind die eigentlichen Opfer des Krieges immer nur die Deutschen, für deren »Rückkehrrecht auf Heimat« sie kämpft. So diffamiert sie die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht als eine »klassische Verhetzung«. Infam instrumentalisiert sie Karl Jaspers mit seiner Friedensrede in der Frankfurter Paulskirche 1958 und Hanna Ahrendt in ihrer Argumentation zum Totalitarismus.

In dem 250seitigen Buch sind nur 125 Seiten von Erika Steinbach, die andere Hälfte sind Veröffentlichungen von und über Peter Glotz. In summa: Das Buch ist quasi eine Dokumentation über die Geschichte der revanchistischen Vertriebenenverbände und eine Rechtfertigung für das Zustandekommen des »Zentrums gegen Vertreibung«. Nach gründlicher Lektüre teile ich die Meinung von Lorenz Knorr, der diesem Buch den Titel »Die Tragik permanenter Selbsttäuschung« geben würde.

Anfang Februar wurde im Bundestag ein Antrag der Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP behandelt, in dem aus Anlass des 6o. Jahrestages der Charta der deutschen Heimatvertriebenen gefordert wurde, den 5. August als bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung festzulegen. In ihm wir die These vertreten, dass die Charta der Heimatvertriebenen zu den Gründungsdokumenten der Bundesrepublik gehöre. Ein Skandal. Sie wurde von den Oppositionsfraktionen zurückgewiesen. Wer die Charta feiern will, darf über die geschichtliche Uneinsichtigkeit ihrer damaligen Unterzeichner und deren Verstrickung ins Naziregime nicht schweigen. Der Kampf um die Deutung der Geschichtegeht also weiter.