Ambivalente Anonyma

geschrieben von Rahel Fink

5. September 2013

Zwischen historischen Klischees und bitteren Wahrheiten

Jan.-Feb. 2009

Anonyma – Eine Frau in Berlin

Deutschland 2008

Regie: Max Färberböck

Darsteller: Sandra Hüller, August Diehl, Juliane Köhler, Nina Hoss, Rolf Kanies, Irm Hermann

Zu Beginn des Films geht mir nur ein Gedanke durch den Kopf: »Oh nein, also doch das Klischee, die Russen kommen nach Berlin und fallen über die Frauen her!«. Zum Glück hält dieser Eindruck nicht den ganzen Film hindurch. Aber ambivalent bleibt mein Gefühl bis jetzt. Wie soll ich diesen Film beschreiben? Was will er sagen? Finde ich ihn sehenswert und kann ich ihn empfehlen? Ich finde keine Antwort, alle Gedanken in meinem Kopf bleiben widersprüchlich.

Er beginnt mit einem Fest. Wunderschön gekleidete deutsche Frauen, die das Schönheitsideal der 40er Jahre verkörpern. Sie stoßen mit Champagner an und halten kurz inne, um an ihre Männer an der Ostfront zu denken. Leider können diese den herrlichen Moment nicht miterleben, aber wer weiß – noch hofft man auf den Endsieg.

Die Hauptperson des Filmes, eine schöne kühle Frau, die auch im Chaos der letzten Tage des Krieges und den ersten im Frieden, alles im Griff zu haben scheint, ist Journalistin und beherrscht mehrere Sprachen. Sogar Russisch. Damit bekommt sie nach dem Einmarsch der roten Armee eine besondere Funktion. Sie wird Dolmetscherin, Vermittlerin und Organisatorin.

Die Rahmenhandlung des Films ist ihr Tagebuch, sie schreibt es für ihren Freund, der noch an der Front ist. Sie schreibt es scheinbar unbeteiligt, wie eine Reportage. Doch die politischen Ereignisse, das Ende des Krieges und die deutsche Kapitulation spielen keine Rolle. Den Neuanfang unter russischer Besatzung beschreibt sie nur unter dem Blickwinkel der bitteren Erfahrung ihrer Vergewaltigungen.

In der für mich eindrücklichsten Szene erzählt ein russischer Soldat unter Tränen von der Vernichtung seines Dorfes durch deutsche Soldaten. Die Journalistin wird als Dolmetscherin herangeholt. Sie hört dem Soldaten zu, aber übersetzt nur zögerlich. Der Soldat forderte sie energisch auf zu übersetzten. Sie tut es und schluckt schwer dabei. Er beschreibt, wie die deutschen Soldaten in sein russisches Dorf einfielen, die Einwohner quälten, vergewaltigten, umbrachten und weiterzogen. Die Dolmetscherin macht ihre Zweifel an seiner Beschreibung mit zwei Worten deutlich »nur gehört?« oder »selber gesehen?« Der Soldat antwortet: »gesehen!«

Die Kapitulation wird von den russischen Soldaten groß gefeiert. Gemeinsam mit den deutschen Frauen wird Essen vorbereitet, getafelt und getanzt. Wie kann das sein? Für die Deutschen brach doch jede Illusion zusammen. Ist die Freude und die Lust am Feiern stärker als alles andere?

Im Laufe des Films kehren zwei Männer aus dem Krieg zurück. Ein Ehemann, der schweigend versucht, wieder ganz normal bei seiner Familie zu leben. Es aber doch nicht schafft und sich in der Nacht nach der Kapitulationsfeier das Leben nimmt.

Auch der Freund der Journalistin kehrt zurück. Er regt sich auf, weil er sein Atelier nicht vorfindet, wie er es verlassen hat. Sie gibt ihm das Tagebuch, er liest es kommentarlos und verschwindet ohne Abschied.

Keine der handelnden Deutschen hat das Kriegsende als Befreiung erlebt. Der Film bedient doch wieder nur das alte Klischee der vergewaltigenden, feiernden, saufenden und tanzenden russischen Soldaten.

Eine Freundin fragte mich, ob ich mir erklären könne, warum der Film wohl »Anonyma« heißt? Warum will diese Frau anonym bleiben, wovor hat sie Angst? Ich habe keine schlüssige Antwort. Vielleicht sollen Klischees geschichtliche Ereignisse anonymisieren? Die bittereren Schilderungen des russischen Soldaten werden bezweifelt, aber deutsche Frauen sind die namenlosen Opfer der Befreiung…