Berichte aus der »Hölle«

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Auschwitz-Überlebende geben Auskunft über die Verbrechen der
NS-Medizin

Jan.-Feb. 2009

Miklös Nyiszli berichtet

»Ich schnitt das Fleisch aus den Körpern gesunder Mädchen für Dr. Mengeles Bakterienkulturen. Ich badete die Leichen von Krüppeln und Zwergen in Kalziumchlorid-Lösung und kochte sie in Bottichen, damit die sachgemäß präparierten Skelette in die Museen des Dritten Reiches gelangen konnten, um dort zukünftigen Generationen als Beweis für die Notwendigkeit der Ausrottung ’niederer‘ Rassen zu dienen.«

»Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderer voraus, dass ich weder glaube sie begründen zu müssen noch zu sollen.« (Theodor W. Adorno, 1966)

Vier Bücher über und aus Auschwitz sollen hier angezeigt werden. Alle vier Autoren, zwei Frauen und zwei Männer, haben ihre Berichte unmittelbar nach der Befreiung geschrieben. Veröffentlicht wurden sie aber erst mit jahrzehntelangem Abstand vom Erlebten. Drei bewusst als Einspruch gegen die Entwicklung bis heute, da die Leugner der faschistischen Barbarei lauter werden (können) und der Ungeist, der in Auschwitz mündete, fast wieder gesellschaftsfähig ist. Schließlich: Alle Autoren illustrieren aus unterschiedlichem Erleben das, was Ernst Klee in seinem Buch »Auschwitz, die NS-Medizin und ihre Opfer« in die Worte zusammenfasst: »Auschwitz war die Hölle für die Häftlinge und der Himmel für die Forschung, die sich hemmungslos des ‚Menschenmaterials‘ bediente.«

Sima Vaisman

In Auschwitz. Lilienfeld Verlag Düsseldorf, ca. 100 Seiten, 17,90 EUR

Adélaide Hautval

Medizin gegen die Menschlichkeit. Herausgegeben von Florence Hervé und Hermann Unterhinninghofen. Karl Dietz Verlag Berlin, 144 Seiten 9,90 EUR

Miklós Nyiszli

Im Jenseits der Menschlichkeit, Herausgegeben von Friedrich Herber und Andreas Kilian. Karl Dietz Verlag Berlin, 2008 Seiten, 12,40 EUR

Shlomo Venezia

Meine Arbeit im Sonderkommando Auschwitz, Blessing Verlag München, 271 Seiten, 1995

Zunächst soll hier die Rede sein von zwei Frauen, die in dieser Hölle um den Preis des eigenen Lebens »Nein« sagten, ihre menschliche Würde bewahrten und solidarisch handelten. Mit 41 ging Sima Vaisman am 20. Januar 1944 mit dem Transport 66 aus dem französischen Sammellager Drancy auf die Reise nach Auschwitz-Birkenau. Die Dentistin arbeitet im Krankenrevier. »Wir führen hier alles in allem ein sehr geregeltes Leben« schreibt sie. Sie protokolliert dieses »geregelte Leben«: »… und an unserem Block ziehen, fließen, mal in prasselndem Regen, mal unter sengender Sonne, Ströme von Menschen dahin, junge Frauen und Kinder in den Armen, Frauen, die unterwegs noch ihre Brust voller Leben und Saft gaben, um ihre Kinder vom Weinen abzuhalten… Und schweigend und machtlos wohnen wir diesem Zug bei. Unsere brennenden Blicke folgen ihnen bis zum Schluß…«

Mit 230, meist politischen französischen Frauen, kam die »Judenfreundin« Dr. Adélaide Hautval am 23. Januar 1943 in Auschwitz an und wurde als Ärztin in den Menschenversuchsblock verpflichtet. Im August 1944 kam sie in das Frauen-KZ Ravensbrück, auch hier wurde sie im Krankenrevier eingesetzt. Blieb dort nach der Befreiung noch freiwillig bis Ende April 1945 zur Pflege der kranken Frauen. In beiden Lagern lehnte sie es ab, bei den Medizinverbrechen der KZ-Ärzte, einer von ihnen war in Auschwitz Josef Mengele, mitzumachen. Ihre 1945/46 aufgeschriebenen Notizen wurden nach ihrem Freitod 1991 in Frankreich veröffentlicht. 2008 erschienen sie erstmals in deutscher Sprache.

Dr. Miklós Nyiszli, (Jahrgang 1901) ungarischer Jude mit rumänischer Staatsbürgerschaft, traf mit einem Transport ungarischer Juden am 27. Mai 1944 in Auschwitz ein. Er sagte nicht »Nein«. Bei der Selektion durch Mengele stellte er sich als ausgebildeter Mediziner, der Selektionen durchführen kann und gerichtmedizinische Kenntnisse hat, zur Verfügung. Das Krematorium wurde sein »Arbeitsplatz«. »Überall herrscht voller Betrieb«, und »Die Arbeit läuft auf vollen Touren…« schreibt er 1946 in seinem Bericht über seine Zeit »im Jenseits der Menschlichkeit«, die der Berliner Dietz Verlag in der 2. Auflage mit dem Vermerk versah: »Das Buch zum Film ‚Die Grauzone’«. Ein fasst unverdaulicher Bericht.

Shlomo Venezia wurde nicht gefragt, erklärte sich auch nicht dazu bereit, als er mit einem Transport aus Athen kommend im März 1944 in Auschwitz dem jüdischen Sonderkommando zugeordnet wurde. Die zur Vernichtung bestimmten Häftlinge wurden von Mitgliedern dieses Sonderkommandos in die Gaskammern geführt. Sie hatten die Leichen aus den Öfen zu entfernen und in den Krematorien für ihre Verbrennung zu sorgen. Von den rund 2 100 Angehörigen des Sonderkommandos in Auschwitz haben nur knapp einhundert überlebt. »Man kommt nie mehr wirklich aus dem Krematorium heraus« schreibt Venezia in seiner Biografie.