Betrug an den Überlebenden

geschrieben von Ulla Jelpke

5. September 2013

Regierungsmehrheit bringt 20.000 NS-Opfer um Renten-Nachzahlungen.

Mai-Juni 2013

Zum Jahrestag des Aufstandes im Warschauer Ghetto erhoben sich die Bundestagsabgeordneten, um der mutigen Kämpferinnen und Kämpfer zu gedenken, die am 19. April 1943 den deutschen Besatzern und Mördern Paroli geboten hatten. Eine richtige Geste – aber wenn es praktisch wird, bleibt von der Ehrung für ehemalige Ghetto-Insassen nicht viel: Schon Ende März dieses Jahrs hatte eine Mehrheit aus FDP und Union die längst überfällige Neuregelung der sogenannten Ghetto-Renten abgelehnt. Für rund 20.000 NS-Opfer bedeutet das, dass sie um mehrere tausend, mitunter auch mehrere zehntausend Euro Rentenansprüche gebracht werden.

Im Jahr 2002 hatte der Bundestag beschlossen, allen NS-Opfern, die in Ghettos gearbeitet hatten, Rentenansprüche zuzubilligen. Diese sollten rückwirkend ab 1. Juli 1997 ausbezahlt werden.

Doch die 70.000 Antragsteller, die sich danach bei den Rentenkassen meldeten, scheiterten an der deutschen Bürokratie. 96 Prozent aller Anträge wurden abgelehnt. Grund: Rentenkassen und Sozialgerichte waren der Auffassung, die ehemaligen Ghetto-Insassen seien nicht, wie vom Gesetz gefordert, ihrer Arbeit aus »freiem Willensentschluss« und »gegen Entgelt« nachgegangen, sondern hätten schlicht Zwangsarbeit geleistet, und dafür gebe es nun mal keine Entschädigung.

Tatsächlich scheint es obszön, Ghetto-Arbeit mit dem Begriff »Freiwilligkeit« zu assoziieren. Und doch: Im Ghetto gab es einen minimalen Spielraum, den es etwa in einem Zwangsarbeitslager nicht gegeben hat. »Die einzige Möglichkeit, einer Deportation zu entgehen, war die Aufnahme einer Beschäftigung und so meldeten wir uns freiwillig sofort bei dem für diese Zwecke eingerichteten Judenrat«, sagte Uri Chanoch vom Center of Organizations of Holocaust Survivors in einer Anhörung des Bundestags-Ausschusses für Arbeit und Soziales im vorigen Dezember. Manchmal gab es für die Arbeit ein paar Pfennig (im Generalgouvernement führten die Nazis davon sogar Rentenbeiträge ab!), manchmal nur ein paar Lebensmittel. Immerhin konnte eine Handvoll Kartoffeln über Weiterleben oder Verhungern entscheiden.

Aber Rentenbürokraten und Sozialrechtler hatten sich, bis auf wenige Ausnahmen wie Jan-Robert von Renesse am Landessozialgericht NRW, keine Mühe gegeben, die Ghettobedingungen zu erforschen. Sie wandten einfach die Begriffe des heutigen Rentensystems eins zu eins auf die Ghettos an. Mit diesem grob ahistorischen Unterfangen machte das Bundessozialgericht erst 2009 Schluss. Alle bis dahin abgelehnten Anträge wurden erneut überprüft. 7000 Betroffene erlebten diesen Zeitpunkt schon nicht mehr. Rund 25.000 kamen wenigstens teilweise zu ihrem Recht. Die meisten Betroffenen erhielten die Nachzahlung aber nur bis 2005. Das hat seinen Grund in einer Gesetzesklausel, die Rückwirkungsansprüche auf maximal vier Jahre begrenzt.

Die Linke im Bundestag wollte im Sommer 2011 in einer Kleinen Anfrage von der Bundesregierung wissen, was sie gegen diesen Missstand tun wolle. Antwort: Nichts. Daraufhin reichte die Fraktion einen Antrag ein, der eine rückwirkende Auszahlung der Renten bis 1997 forderte. Der Antrag wurde von der Regierungsmehrheit erst lange verschleppt, dann brachten SPD und Grüne eigene Anträge mit gleicher Stoßrichtung ein. Es folgte schließlich eine Anhörung im Dezember 2012. Dort sahen bis auf den Vertreter der Deutschen Rentenversicherung alle Sachverständigen, also auch jene, die von den Regierungsfraktionen benannt worden waren, einhellig raschen Handlungsbedarf.

Union und FDP begründen ihre Ablehnung der Anträge mit der Behauptung, die Nachteile durch den späteren Auszahlungszeitpunkt würden dadurch wieder ausgeglichen, dass die Rente dafür höher ausfällt. Daran ist richtig: Eine Rente, die erst 2005 bewilligt wurde, ist höher, als wenn sie schon 1997 bewilligt wurde. Aber die Annahme, Vor- und Nachteile einer Neuberechnung glichen sich aus, ist in den meisten Fällen schlicht falsch. Das hatte die Anhörung ergeben, und das zeigt auch die Praxis: Rechtsanwälte können massenhaft Fälle vorlegen, in denen es um 18.000 bis 20.000 Euro Nachzahlung geht. Dem stünde dann zwar eine Reduzierung der künftigen Rente um etwa ein Drittel gegenüber, aber: Verrechnet man diese Summen, ergibt sich, dass Menschen, die heute meist Mitte 80 bis über 90 sind, noch 20 Jahre leben müssten, bevor ihre Rückzahlung »aufgefressen« wäre. Mit einem solch biblischen Alter rechnen die meisten nicht. Die Überlebenden der Ghettos wollen ihre Rente jetzt, wo sie noch etwas damit anfangen können, hatte denn auch ihr Sprecher Chanoch eindeutig gefordert.

Die Entscheidung der Bundestagsmehrheit bedeutet, dass den Überlebenden fünfstellige Summen verweigert werden. Die Linke hat gleich nach der Abstimmung eine weitere Anfrage an die Regierung gestellt, vor allem, um den öffentlichen Druck beizubehalten. Denn nur der kann die Regierung bewegen, doch noch eine Lösung herbeizuführen.