Das lettische Gespenst

geschrieben von Martin Schirdewan

5. September 2013

Lieber mit den Nazis, als mit den Russen koalieren

Nov.-Dez. 2011

Seit die internationale Finanzkrise im Jahr 2008 auch Europa erreichte, zeichnete sich auf dem alten Kontinent ein besorgniserregender Wahltrend ab. Überall dort, wo die Bürgerinnen und Bürger an die Urnen gerufen wurden, sei es turnusgemäß oder krisenbedingt, obsiegte die parteipolitische Rechte. Sozialdemokratische und sozialistische Regierungen wankten, einige wie etwa in Großbritannien und Portugal stürzten. Konservative übernahmen die Regierungsgeschäfte und suchten nach ihren pronationalen Antworten auf die Krise, die längst die sogenannte Realwirtschaft erfasst hatte.

Nicht genug damit. Jenseits der konservativen Rechten etablieren sich in Europa verstärkt offene rechtsextreme und rechtspopulistische Parteien und Bewegungen, die den gesellschaftlichen und europäischen Konsens offen attackieren. Beispiele jenseits der bereits etablierten Rechten in Frankreich, Italien, Österreich, den Niederlanden, Norwegen…? Etwa Finnland, Ungarn, auch Lettland… Die europäische Linke in und linksseits der Sozialdemokratie scheint hilflos, gibt Antworten, die momentan kaum jemand hören will und zieht so manches Mal vom politischen Gegner geschlagen und vom Souverän abgestraft von dannen.

Bis vor kurzem hielt dieser Trend. Plötzlich jedoch übernimmt eine Sozialdemokratin das dänische Regierungsamt, siegen die französischen Sozialisten bei den Senatswahlen und wird eine linksliberale, prorussische Partei, das ‚Harmonie-Zentrum‘, Wahlsiegerin in Lettland.

Apropos Lettland. Die baltischen Gesellschaften sind tief gespalten entlang der ethnischen Linien zwischen russischer Minderheit einerseits und lettischer, litauischer, estnischer Mehrheit andererseits. Ein Leftover der Geschichte, mit allem, was damit verbunden war und ist. Trotz der Verluste der konservativen Einheitspartei von Lettlands Regierungschef Valdis Dombrovskis führt dieser auch die neue Regierungskoalition, der neben der sogenannten Reformpartei auch die offen rechtsextreme Partei »Alles für Lettland« angehört.

»Bloß nicht mit den Russen koalieren! Dann doch lieber mit den Nazis, deren Parteifahne ein Hakenkreuz erahnen lässt, die offen mit den lettischen SS-Einheiten sympathisierten und paktieren und die die Russen noch heute als Okkupanten betrachten, die aus dem Land gejagt werden müssen.«, mag Dombrovskis gedacht haben, als er sich für den Machterhalt auf Kosten von Demokratie und sozialem Frieden entschied. Nachdem die finnische Gesellschaft mit einer quasi All-Parteien-Koalition auf die Herausforderung durch die »Wahren Finnen« reagiert hat, praktiziert Dombrovskis vor unser aller Augen das krasse Gegenteil dessen, was ein europäischer Staatenlenker im Angesicht der Krise Europas tun sollte.

Deshalb sollte von einer wirklichen Trendwende angesichts dieser Entwicklungen (noch) nicht gesprochen werden. Wer letztlich durch die anhaltende Krise politisch profitiert, wird nicht nur die Geschichte zeigen, sondern im Hier und Jetzt entschieden. Der konsequente Kampf gegen Rassismen jeder Art und für ein solidarisches Europa muss in der großen europäischen Krise Bestandteil der Lösung sein.