Deckname »Odessa«

geschrieben von Axel Holz

5. September 2013

Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher

Sept.-Okt. 2007

Uki Goñi:

Odessa. Die wahre Geschichte Fluchthilfe für NS-Kriegsverbrecher, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg 2006, 22 Euro, ISBN: 978-935936-40-8

Historisch Interessierten wird nicht entgangen sein, dass der Name »Odessa« nicht nur für die malerische Stadt auf der Krim steht, sonder auch die Abkürzung einer Organisation darstellt, mit der die massenhafte Flucht namhafter NS-Kriegsverbrecher organisiert wurde – darunter Adolf Eichmann, Klaus Barbie und Josef Mengele. Zur Erinnerung: Eichmann gilt als Architekt des Holocaust, Gestapochef Barbie ging als Schlächter von Lyon in die Geschichte ein und der KZ-Arzt Mengele erhielt durch seine Zwillingsexperimente in Auschwitz eine zweifelhafte Bekanntheit.

Nicht bekannt war bisher das Ausmaß und die systematische Organisation dieser Fluchtbewegung über die berüchtigten»ratlines«, die Rattenlinien, in das sichere Argentinien. Dazu waren drei wichtige Bedingungen erforderlich: einflussreiche Fluchthelfer, ein bereitwilliges Aufnahmeland und viel Geld.

Unter den Fluchthelfern waren nicht nur Schweizer Beamte, die nur wenige Zeit zuvor bedrängte Juden von ihren Grenzen abgewiesen hatten und nun verfolgten Nazis die Flucht über die Schweiz nach Italien ermöglichten. Auch in anderen europäischen Ländern funktionierte das Netzwerk der geschlagenen Nazis bestens. Von Argentinien aus wurde die Einreise Tausender Kollaborateure und Kriegsverbrecher aus dem Büro von Präsident Juan Domingo Peron gesteuert, wenn nötig auf illegalen Wegen. Berüchtigte Kriegsverbrecher, wie Adolf Eichmann, Klaus Barbie und Erich Priebke, erhielten fortlaufende Nummern bei der Planung ihrer Einreise – ein deutliches Zeichen der gezielten Fluchthilfe für erwiesene Kriegsverbrecher. Allein aus Kroatien flohen ca. 2.000 Ustascha-Faschisten nach Argentinien. Die Kontakte für diese Aktionen wurden von Walter Schellenbergs Nachrichtendienst aus dem Berliner Reichssicherheitshauptamt bereits zu Beginn des Krieges geknüpft. Die Fäden des Fluchthilfe-Netzwerkes liefen im Vatikan zusammen. Als Zweifel an der zentral steuerndenden Rolle des Vatikans bei der Nazi-Fluchthilfe nach Erscheinen der ersten Ausgabe von Goñis Buch aufkamen, bewies der Autor eben diese Rolle an Hand weiterer Recherchen. Die Koordination der Fluchthilfe im Vatikan übernahm der kroatische Priester Draganovic, der vom Leiter der päpstlichen Hilfskommission PCA, Kardinal Montini, eingesetzt und kontrolliert wurde – dem späteren Papst Paul VI. Aus einem Fond des Vatikans stammte auch ein Großteil des Geldes, mit dem die Fluchthilfe finanziert wurde. Schließlich ermöglichte der Vatikan den Transfer des gestohlenen kroatischen Staatsschatzes, von dem ein erheblicher Teil von kroatischen Faschisten über die Schweiz nach Italien geschleust wurde. Er bildete die Starthilfe für zahlreiche Nazis in Argentinien, denen die Flucht über den Atlantik gelungen war. Der Historiker und Journalist Uki Goñi hat auf der Grundlage langjähriger Recherchen in argentinischen, US-amerikanischen und europäischen Archiven bisher unbekannte Quellen erschlossen und sie durch 200 Zeitzeugeninterviews untermauert. Er entwirft ein Bild des Netzwerkes der Nazi-Fluchthilfe, das mit Hilfe staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen in ganz Europa über Stützpunkte in Skandinavien, Spanien, Italien und der Schweiz verfügte, während im Vatikan die Fäden zusammenliefen. Für alle, die mit der Verfilmung des Theaterstücks »Der Stellvertreter« von Rolf Hochhuth durch Regisseur Costa-Gavras bereits ein Ahnung vom Wegschauen des Papstes gegenüber den Nazi-Verbrechen und der bereitwilligen Fluchthilfe des Vatikans bei Kriegs-ende hatten, wird das ganze Ausmaß der Flucht europäischer Kriegsverbrecher vor den alliierten und nationalen Gerichten der europäischen Nachkriegsstaaten erst in diesem Buch deutlich.