Dein Andenken lebt

5. September 2013

Fiktiver Brief an eine unvergessene Antifaschistin

März-April 2007

Liebe Dora,

vor sieben Jahren, du warst immerhin schon 86 Jahre alt, hast du dem Leben freiwillig vale! gesagt. Vieles von dem, was seither auf der Welt passiert ist, würde dich nur noch mäßig interessieren, deprimieren jedoch so allerlei.

Dass zwei Urenkelinnen unsere Familie vergrößert haben, wäre dir wohl wichtig und eine Freude gewesen.

Warum nun ein Brief an dich? Ursache ist ein anderer Brief, der uns am Weihnachtsabend des vergangenen Jahres erreichte. Darin teilte uns ein Franzose namens Rémy Demonsant mit, die Gemeinde von Gaillac/Brens habe beschlossen, einer Straße deinen Namen zu geben. Es handele sich um die vor dem ehemaligen Internierungslager für Frauen entlang führende Straße. Die dürfte dir in unguter Erinnerung sein, wenngleich du am 14. Juli 1942 durch Flucht deiner Internierung ein Ende setztest.

Der feierliche Akt der Namensgebung sei für den 12. März 2006 vorgesehen und der Sohn herzlich eingeladen. Welch überraschendes Weihnachtsgeschenk für die ganze Familie! In letzter Minute entschloss sich Anja, deine älteste Enkelin, dieses besondere Ereignis nicht zu verpassen. Unsere kleine deutsche Abordnung, zu der noch unser langjähriger Freund Detlef stieß, traf am Vortag der »Hommage à Dora Schaul« in Gaillac ein. Alle waren wir aufgeregt und gespannt.

Kurz vor 10.00 Uhr bummelten wir über die Brücke Pont St. Michel. Wir sahen, dass sich viele Leute versammelt hatten. Natürlich wieselten Kameraleute umher und schnell wurden Sohn und Enkeltochter an das blau-weiße Schild mit der Aufschrift »Route Dora Schaul« gestellt, um sie für die örtliche Presse abzulichten. Es folgten, was natürlich einem solchen Akt gemäß ist – viele Reden. Allen gemeinsam war eines: würdige Worte über dich als mutige Frau aus Deutschland, Kommunistin jüdischer Herkunft, die sich unerschrocken der Résistance anschloss und so dazu beitrug, den deutschen Faschismus zu besiegen.

Angelita Bettini, die als sehr junges Mädchen in Brens interniert war, und sich nur ganz vage an dich erinnern kann, hat Tränen in den Augen, als sie über die harte Zeit im Lager spricht. (Heute ist sie Präsidentin der Vereinigung für die Bewahrung der Erinnerung an die Internierten der Lager Brens und Rieucros). Viele Zuhörer werden von der bewegenden Zeremonie emotional mitgenommen. Aufmerksam lauschen die Versammelten einer Botschaft von Madame Simone Veil, Präsidentin der Stiftung für die Erinnerung an die Shoah. Sie bedauert, an der Straßennamensgebung nicht persönlich teilzunehmen, geht in ihren Zeilen aber sehr ausführlich auf die gefährliche Arbeit ein, die du unter dem Namen Renée Fabre bei der Deutschen Feldpost in Lyon geleistet hast. Auch dein Sohn tritt ans Mikrofon und bedankt sich im Namen der Familie für die Ehre, die man dir in Gaillac erweist.

Bevor die Hommage an dich im Gemeindesaal fortgesetzt wird, gehen alle zu einem anderen Tor des einstigen Lagers. An einem Gedenkstein für die internierten Frauen werden in stillem Gedenken an sie Blumen niedergelegt.

Als wir danach den Saal betreten, ist der schon so gut besucht, dass noch einige Stuhlreihen zusätzlich hingestellt werden müssen. Hier hat zunächst Sterenn LeBerre das Wort. In ihrer Magisterarbeit ist sie dem »Fall Dora Schaul« nachgegangen. Nun präsentiert sie die Persönlichkeit, die du in deiner Lebenszeit gewesen bist. Die Aufmerksamkeit im Saal gehört ihr/dir ungeteilt.

Eigentlich war anschließend noch eine Lesung mit Michel del Castillo vorgesehen, doch leider musste er aus gesundheitlichen Gründen absagen, tat dies jedoch mit einem kleinen wunderbar warmherzigen Text für die Versammelten. Erinnerst du dich an ihn? Du warst für ihn so etwas wie eine zweite Mutter; seiner eigenen ging es unter den Internierungsbedingungen oft so schlecht, dass sie sich nicht viel mit ihm beschäftigen konnte.

Wie lebendig du noch bist, dürfte dir nach der Lektüre unseres Briefes deutlich geworden sein. Viele Freunde und Bekannte, denen wir von der »Route Dora Schaul« erzählten, freuten sich über diese Nachricht und meinten gleichzeitig: »Schade, dass sie das nicht mehr erlebt hat!« Doch wie hast du oft in den unterschiedlichsten Situationen gesagt? C’est la vie!

Es grüßen dich, wo auch immer du bist,

deine Schwiegertochter Nina und natürlich auch dein Sohn Peter