Demokrat aus Leidenschaft

geschrieben von Friedrich Leidinger

5. September 2013

Internationales Kolloquium zum 90. Geburtstag von Helmut Ridder

März-April 2009

Auf einem zweitägigen Kongress unter dem Titel »Geschichte – Recht – Politik« erinnerten Wissenschaftler der Freien Universität Berlin gemeinsam mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der BRD, der Deutsch-Polnischen Akademischen Gesellschaft und der Berlin-Brandenburgischen Auslandsgesellschaft an den 2007 verstorbenen Gießener Juristen und Politikwissenschaftler und langjährigen Vorsitzenden der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Helmut Ridder. In Anwesenheit der Tochter des Geehrten debattierten Wissenschaftler, Politiker und engagierte Bürger, unter ihnen zahlreiche Schüler Ridders, Grundfragen der Demokratie, für die Ridder sein Leben lang wie kaum ein anderer Deutscher seiner Generation mit unübertroffener intellektueller Schärfe, mit Leidenschaft und Mut eingetreten ist.

Er war ein unbestechlicher Anwalt der Republik, die »sein müsste und könnte, aber immer noch nicht ist«, wie er selbst in einer Ansprache zum 8. Mai 1985 formulierte. Sein wissenschaftliches und publizistisches Werk umfasst mehr als 500 Titel, geschrieben in brillanter, die Vertrautheit des Autors mit der Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts bezeugenden Prosa. Sein politisches Wirken umspannt einen weiten Bogen; von dem Eintreten gegen die Wiederbewaffnung und atomare Aufrüstung der BRD, als er 1958 mit dem Komitee für eine Volksbefragung vor dem Karlsruher Verfassungsgericht stand (und verlor), über die Feststellung der Gleichberechtigung von Ehegatten in Erziehungsfragen 1959 und die Verhinderung des adenauerschen Staatsfernsehens 1961 (beides erfolgreich) vor demselben Gericht, das er gleichwohl wegen seines Charakters als »über dem Souverän stehend« als antirepublikanischen »Ersatzmonarchen« kritisierte.

Als Demokrat geißelte er das KPD-Verbot und den staatsdoktrinären Antikommunismus. Helmut Ridder, von seiner eigenen Herkunft und Weltanschauung als westfälischer Katholik eigentlich dem bürgerlichen Lager zugehörig, fand gerade hier seine schärfsten Gegner. Aber auch gegenüber der politischen Linken blieb Ridder distanziert; er litt unter jenen, die Gesinnung über Wahrheit stellen und die den »Zivilisationsfaktor Recht« geringschätzend demokratische Prinzipien aus opportunistischen Gründen opfern.

In der Zeit der ersten »Großen Koalition« wurde Ridder als Sprecher des 1966 gegründeten Kuratoriums »Notstand der Demokratie« zum profiliertesten Protagonisten gegen die »Notstandsgesetze«, mit denen die Verfassung angeblich vor einem »Übermaß an Freiheit« geschützt werden sollte; er engagierte sich im Kampf gegen die »Berufsverbote«, die er »Demokratieverbote« nannte, und knüpfte mit seiner Unterstützung des »Krefelder Appells« gegen den NATO-Doppelbeschluss 1981 an dem friedenspolitischen Engagement der frühen Jahre an.

Über seine Frau Maria fand er zur Deutsch-Polnischen Gesellschaft, die er von 1977 bis 1993 leitete. Im deutsch-polnischen Verhältnis sah Ridder den Schlüssel für den Frieden in Europa, in der beharrlichen Weigerung der BRD, die durch den Krieg geschaffenen Realitäten anzuerkennen und durch die Rechtskonstruktion vom Fortbestand des Deutschen Reiches alle ab 1970 getroffenen Vereinbarungen unter einen Revisionsvorbehalt zu stellen, die gefährlichste Form des Revisionismus. Ridders Eintreten für die Verständigung mit Polen trug ihm 1983 die Ehrendoktorwürde der Universität Lódz und 1984 das Kommandeurskreuz des polnischen Verdienstordens ein. Und 1988 zu seiner Emeritierung verlieh ihm die Universität Jena die Ehrendoktorwürde für sein Lebenswerk, »aus dem auch die Juristen und Gesellschaftswissenschaftler der DDR Gewinn« ziehen könnten. Es sagt viel über die Bonner Republik aus, dass sie diesem unermüdlichen Kämpfer für die Verwirklichung der bürgerlichen Revolution auf deutschem Boden, dessen Schüler in Staat und Justiz bis heute hohe und höchste Ämter bekleiden, eine vergleichbare Ehrung zu erweisen nicht vermochte.

Mit Spannung erwartet wurde auf der Konferenz der Diskussionsbeitrag des Kölner Rechtsanwalts Gerhart Baum, der als Bundesinnenminister (1978-1982) selbst für die Anwendung des »Radikalenerlasses« Verantwortung trug, wie er selbstkritisch anmerkte. Die Politiker »testen die Belastbarkeit der Verfassung«, meinte Baum, es gebe, zitierte er den Verfassungsrichter di Fabio, »eine Lust auf antizipierten Ausnahmezustand«, und zog Parallelen zur RAF-Zeit, als »wir noch soeben an der Verfassung entlang geschrammt« seien. »Wer die Freiheit einschränkt, kann das ohne Begründung tun, wer sie verteidigt, muss das begründen«. Nahezu alle Bezüge und alle Themen des europäischen Gedenkjahres, die ja auch die wichtigsten aktuellen Themen in Politik und Gesellschaft sind, waren auf der Konferenz gegenwärtig, und doch wurde nur ein kleiner Ausschnitt aus Ridders Werk beleuchtet, das nach dem Willen seines Autors nie abgeschlossen sein, sondern immer als Teil eines größeren Kontextes verstanden werden sollte. Darin zeigt sich die Aktualität Ridders, zwei Jahre nach seinem Tod und 90 Jahre nach seiner Geburt. Seine Gedanken werden auch in Zukunft Menschen anregen und zur Weiterarbeit motivieren. Doch er selbst wird schmerzlich vermisst.