Der Sohn des Dorfhirten

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

Zum 120. Geburtstag des Schriftstellers Adam Scharrer

Juli-Aug. 2009

»Ein großer Teil der deutschen Bürger beiderlei Geschlechts will von den Dingen und Menschen, (von) Gestapo, Konzentrationslagern und allem, was damit zusammenhängt, ›nichts mehr wissen‹. (…) Sie sind nur für eine ›konstruktiv-demokratische‹ Politik zu haben. Sie fühlen sich zudem auch unschuldig und erklären hartnäckig, sie hätten von all den grausigen Scheußlichkeiten nichts gewusst. In diesem geistigen Habitus spiegelt sich die ganze deutsche Tragödie in Reinkultur. Diese ›konstruktive Demokratie‹ ist auf die These zu reduzieren: Wir wollen davon einfach nichts wissen! Man muss Gras über die Geschichte wachsen lassen, und man muss die Ochsen verjagen, die das wachsende Gras immer wieder abfressen wollen.«

Diese Sätze leiteten 1947 einen Aufsatz ein in einer Zeitschrift namens »Heute und morgen«: »Die VVN – ihr Gesicht und ihr Gewicht«. »Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes«, heißt es weiter im Text, »verkörpert in sich die die Summe der Erfahrungen des Kampfes gegen Unterdrückung und Verknechtung und für Menschlichkeit und wirklichen Völkerfrieden. Diese Erfahrungen lebendig zu erhalten und fruchtbar zu machen für eine geistige Erneuerung, die in die Tiefe wirkt, ist daher eine Aufgabe von weitreichender historischer Bedeutung.«

Der Autor hieß Adam Scharrer. Gegen Ende der Weimarer Republik hatte er sich gerade ein gewisses Renommee erschrieben. Vor allem der Roman »Vaterlandslose Gesellen« mit dem Untertitel »Das erste Kriegsbuch eines Arbeiters« (1930) erregte als eine Art proletarisches Pendant zu Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues« Aufsehen. Zwei weitere Romane folgten. »Ich habe«, schreibt Scharrer 1947 in einem Rückblick, »mit der Anklage wegen Hochverrats, Ausbürgerung und zwölfjähriger Verbannung aus meiner Heimat dafür büßen müssen.«

Eigentlich stammte er aus dem Fränkischen. Vor 120 Jahren, am 13. Juli 1889, kam Adam Scharrer in Kleinschwarzenlohe (heute Teil der bei Nürnberg gelegenen Marktgemeinde Wendelstein) als ältester Sohn des Gemeindehirten auf die Welt. Einer harten Kindheit folgen mühevolle Lehr- und Wanderjahre, die ihn nach Österreich, in die Schweiz und durch die deutschen Lande führen. Ab 1914 ist er in Berlin, ist Rüstungsarbeiter, Soldat, 1918 Revolutionär. Nachdem er sich Spartakusbund und KPD angeschlossen hatte, wechselt Scharrer 1920 zur KPD-»Linksabspaltung« KAPD. In diesem Umfeld beginnt er, publizistisch tätig zu werden, veröffentlicht auch seine erste Erzählung.

Immer wieder von Arbeitslosigkeit betroffen, wird ihm das belletristische, zugleich autobiographische Schreiben Orientierungshilfe. Unstete Jahre, erste Anerkennung, dann zwingt ihn das NS-Regime in Illegalität und Emigration. Über die Tschechoslowakei kommt er in die Sowjetunion, lebt zeitweise in Dörfern in der Ukraine, kann in Exilzeitschriften Texte veröffentlichen, 1939 erscheint im Moskauer Verlag Das Internationale Buch sein Roman »Familie Schuhmann«. Scharrer schreibt an Büchern, die sich immer intensiver mit den Gegenden seiner Herkunft befassen – am Roman »Der Hirt von Rauweiler« etwa, der erstmals 1946 im Nachkriegsdeutschland erscheinen wird.

Seinen letzten Wohnort findet er in Schwerin, wo er am 2. März 1948, 59 Jahre alt, stirbt. Er kann noch die Edition einiger seiner Bücher erleben, publiziert bis zuletzt in Zeitschriften, engagiert sich in der VVN und im Kulturbund. Einer Bekannten in München schreibt Adam Scharrer zwei Monate vor seinem Tod: »Ich habe natürlich den Gedanken, in meine engere Heimat zurückzukehren, noch nicht aufgegeben. Als Bettler möchte ich nicht auch wieder ankommen. Ich bin ja nun bereits ein Menschenalter auf der Wanderschaft.«

Die »engere«, die bundesdeutsche und bayerische Heimat zeigte in den folgenden Jahrzehnten am Werk ihres Dichters – von Veröffentlichungen in kleinen linken Verlagen abgesehen – demonstratives Desinteresse. In der DDR erschienen bei Aufbau immerhin acht Bände einer gut edierten Werksausgabe. Und zum hundertsten Geburtstag, im Juli 1989, bekam er eine Briefmarke.

Seither ist Adam Scharrer allerdings in ganz Deutschland arg in Vergessenheit geraten. In ganz Deutschland? – Oder gibt es da ein kleines fränkisches Dorf…?

Am Geburtsort des Schriftstellers soll ein »Adam-Scharrer-Zimmer« mit einer Ausstellung zu seinem Leben zu besichtigen sein. Die Wendelsteinerin Gudrun Vollmuth, auch sie eine Dichterin, erzählte dazu im Juli 2008 dem Bayerischen Rundfunk: »Mit unserem Bürgermeister war ich 1989 in Schwerin. Da waren Scharrers Gegenstände von 48 noch eingelagert: ein Schreibtisch, den wir hier jetzt haben, und ein riesiger Bücherschrank voller Bücher. Für einen Hirtenjungen aus Franken war das erstaunlich, was er alles gelesen hat. Aber das Merkwürdige ist: den Schreibtisch haben wir später bekommen. Doch die Dame aus dem Kulturreferat musste uns eine traurige Mitteilung machen. Schwerin hat nach der Wende einen Kulturreferenten aus dem Westen bekommen, dessen erste Handlung es war, den Bücherschrank eigenhändig zu zersägen. Also, den haben wir nicht mehr, aber wahrscheinlich hätten wir ihn hier gar nicht hereingebracht.«