Deutscher Kino-Spuk

geschrieben von Detlef Kannapin

5. September 2013

oder: Wie aus Nazis gute Menschen wurden

Mai-Juni 2009

Der Filmwissenschaftler Dr. Detlef Kannapin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Lucretia Jochimsen

Das deutsche Kino krankte an einem Trauma. Wie sollte es mit der Nazizeit umgehen, wenn die Filmkunst Europas und der Welt bereits die Wahrheit besprachen, zeigten und vor allem politisch-ästhetisch anprangerten, als namentlich Bundes-Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren die besseren Filme der Weimarer Republik schlecht recycelte oder eine zurecht verlustig gegangene Heimat pries?

Ganz einfach: Durch Umdeutung der historischen Wahrheit. Ein deutsches Filmwunder ward geboren, in welchem die Nazis immer besser wurden. So identifizierte der Filmjournalist Dietrich Kuhlbrodt vor einigen Jahren die deutsche Szene. Er hatte damit recht und wusste trotzdem keinen Ausweg. Schlingensief-Filme erschienen als seine Alternative, die Defa konnte ihm aus abwicklungstechnischen Gründen nicht mehr einfallen. Aber auch für Kuhlbrodt war klar: Der Stand der Dinge im deutschen Film der Gegenwart führt weit zurück. Vier allgemeine Thesen dazu:

Erstens: Der Fortgang der Filmgeschichte basiert unterm Kapital auf der bewussten Verschüttung früherer filmischer Möglichkeiten. Anders ausgedrückt: Jede Generation von Filmemachern versucht, das Rad neu zu erfinden. Es darf nur nicht zu ideologischer Klarheit plus ästhetischer Meisterschaft führen. Dafür sorgen eine marktförmige Ausbildung und eine Art innerer Selbstzensur. Dadurch wird Filmgeschichte in ihrem attraktivsten Sinne überhaupt nicht mehr wahrgenommen. Zu verstaubt, zu altbacken, zu langweilig, zu »monokausal«. Es wird immer wieder von vorn angefangen, nur ohne historisches Kontextwissen. Das ist beim Thema Faschismus und Nationalsozialismus fatal. Riefenstahl und Harlan hat es gegeben.

Zweitens: Die Zukunft des Films liegt demnach in seiner Vergangenheit. Hier trotz Riefenstahl und Harlan. Die haben nämlich selbst nur kopiert. Von Eisenstein, von der Sozialdemokratie, von einem unverstandenen Shakespeare, vom Vaudeville, von Griffith usw. Die Zukunft des Films müsste im Sehen-Lernen bestehen, wie es die Altmeister und Klassiker gemacht haben. Aus der elementaren Einsicht heraus, dass der Nationalsozialismus keine originäre Filmkunst hervorbrachte. So zeigte sich anhand der personellen Kontinuität in der westdeutschen Nachkriegsfilmgeschichte, wie ein reaktionäres Gesinnungspostulat vor und nach 1945 keine Filmkunst zu erzeugen imstande war.

Anti-Nazi-Filme, egal woher sie kamen, waren immer dann wirkungsvoll, wenn sie sich der Tradition des proletarischen und des humanistischen Films verpflichtet fühlten. Alles andere wurde Kolportage und bürgerlicher Schick am Grauen. Vor allem das Fehlen erkenntnistheoretischer Hintergründe bei der allgemeinen historisch-politischen Einordnung der faschistischen Systeme machte jedweden Ansatz, mit Filmen irgendetwas darüber zu verstehen, so hoffnungslos vergeblich. Wenn überhaupt, dann ist eine sachlich gerechtfertigte Haltung des Films zu Faschismus und Nationalsozialismus nur in zweierlei Hinsicht möglich:

a) Der Film positioniert sich von Anfang an klar als Antagonist gegenüber dem Faschismus.

b) Der Film offenbart entweder die Brutalität oder die Dummheit oder die Lächerlichkeit des Faschismus.

Nachlässigkeiten bergen dabei immer die Gefahr eines Aufsitzens auf dem faschistischen ideologischen Selbstbild, wobei, wie Georg Seeßlen einmal treffend bemerkte, sich das faschistische Bild als dominanter gegenüber dem Bild vom Faschismus erweist.

Drittens: In Zeiten ideologischer Apathie, wie wir sie spätestens seit der Abschaffung des Staatssozialismus erleben, wird der Zustand einer Gesellschaft stets durch filmische Konvention ausgedrückt. Das heißt, ästhetisch-politischer Wagemut, der eventuell noch einfache oder auch komplizierte Wahrheiten zum Gegenstand hat, wird chancenlos als »ewiggestrig« entsorgt.

Viertens: Die heute vorherrschende Tendenz, in Faschismus und Nationalsozialismus entweder »das Böse schlechthin« oder einen allgemein-menschlichen »Trieb« ersehen zu wollen, hatte ihren Ursprung in der Filmkunst schon Ende der 1960er Jahre, als sich die allerersten Ansätze einer möglichen systemrelevanten Erosion des westeuropäischen Wohlfahrtsstaates bemerkbar machten. Seitdem wird an einer Neutralisierung und »Normalisierung« der faschistischen Epoche gearbeitet, unterfüttert von einem heftigen Antikommunismus und mit einem hohen Grad an personalisierter Ablenkung auf politisches Führungspersonal, Einzeltäter und Nebensächlichkeiten.

Man muss also zunächst einmal in der Filmgeschichte weit zurückgehen, um Filmarbeiten zu finden, die der Genese von Faschismus und Nationalsozialismus auf die Spur gekommen sind.

1942 drehte der sowjetische Filmregisseur Wsewolod Pudowkin fünf der vierundzwanzig Szenen aus Brechts »Furcht und Elend des Dritten Reiches«. Der Film hatte den Titel »Die Mörder machen sich auf den Weg«. Pudowkin gelang es, die lapidare Haltung der Vorlage in eine filmisch aufrüttelnde Form zu bringen. Die Aussage: Faschismus funktioniert nur als Allmacht bürgerlicher Angst.

1945 drehte der US-amerikanische Regisseur Frank Capra im Auftrag des US-Militärs einen Agitationsfilm mit dem Titel »Your Job in Germany«. Quintessenz der Aussage: Du, Soldat, kommst nach Deutschland als Befreier und Besatzer zugleich. Verbrüdere Dich nicht mit den Deutschen, denn sie bedauern nicht, den Krieg begonnen zu haben, sondern nur, dass sie ihn verloren haben. Dieser Appell sollte als Mahnung gelten. Auch zu dem, was heute filmisch los ist.

Wie sich einige Wenige vielleicht erinnern, ist die Reihe auch jetzt noch ansehnlicher wichtiger antifaschistischer Filme nicht unerheblich. Sie reicht vom »Großen Diktator« über »Nacht und Nebel« und »Sterne« zum »Gewöhnlichen Faschismus«, zu »Jakob der Lügner« und zu »Geh und sieh«. Aber, im Ernst, wer kennt diese Filme wirklich? Wo werden sie gezeigt? Wer will solche Filme sehen? Und vor allem, wie werden sie wahrgenommen?

Und wer kennt einen 1994 als deutsch-österreichische Koproduktion entstandenen Film namens »Hasenjagd« von einem Regisseur namens Andreas Gruber? Der Film rekonstruiert die sogenannte »Mühlviertler Hasenjagd«, nachdem im Januar 1945 etwa fünfhundert sowjetische Offiziere aus dem KZ Mauthausen geflohen sind. In Ermangelung regulärer SS-Verbände vor Ort, werden die Häftlinge von der einheimischen Bevölkerung mit hohem Einsatz verfolgt und fast komplett wieder eingefangen bzw. ermordet. Auch hier war der Filmstil nüchtern, damit die Erkenntnis, was Faschismus ist, aus der genauen Beobachtung erfolgen konnte. Im Übrigen ist dieser Film das Ausnahmebeispiel für eine ideologisch-ästhetische Opposition zur Konvention im gesamtdeutschen Kino, das zeigt, wie anderes möglich wäre, wenn es denn gewollt würde.

Was bietet das deutsche Kino zur NS-Zeit stattdessen in der Gegenwart? Wie aus Nazis eben gute Menschen wurden. Die Metamorphose des Mainstreams hat sich spätestens seit der Aufführung des 0,1%-Films »Der Untergang« im Jahre 2004 massenkompatibel durchgesetzt. Die Anmaßung, ein mickriges Tausendstel der Geschichte des »Dritten Reiches« und des Zweiten Weltkrieges zum Spektakel des Dabeigewesen-Seins aufzublasen, das ganz nebenbei Adolf Hitler als letztes Opfer des deutschen Faschismus stilisiert, dürfte als Meisterleistung historischer Verkennung und ideologischer Korruption in die Filmgeschichte eingehen. Desgleichen »Napola«, ein Hohelied auf die Jungmannzucht, das sich für die politische Bedeutung der hier als Staffage dienenden »nationalpolitischen« Erziehungskasernen des NS-Regimes überhaupt nicht interessiert. Desgleichen »Mein Führer«, »Anonyma«, »Die Welle«, »John Rabe«. Trotz der weit auseinander liegenden Themenfelder eint diese Filmproduktionen dasselbe: Sie können und wollen sich nicht mehr vorstellen, dass Faschismus und Nationalsozialismus auf einem durchdachten, äußerst stark interessegeleiteten und auf der Tradition struktureller Ausbeutung sich stützendem Gesellschaftsmodell beruhen. Das auszublenden, ist der eigentliche Effekt, dessen Folgen für zukünftige Generationen noch gar nicht absehbar sind.

Zur Erinnerung: Ist es nicht eher so, dass der Faschismus sich seine Massenwirksamkeit einzig und allein durch die Perfektionierung des Ressentiments erkauft hat? Ist es nicht so, dass die Deutschen beleidigt waren, als sie 1945 merken mussten, dass sie, um noch einmal mit Georg Seeßlen zu sprechen, gemordet haben und am Ende nichts dafür bekamen? Ist es nicht so, dass das Kapital darauf spekuliert hat, dass das Kleinbürgertum gerne mal ein wenig Macht ausspielen darf, wenn es selbst die Zügel in der Hand behält? Durch den schlechten Filter der Einebnung von geschichtlichen Unterschieden wird mittlerweile nahezu jeder Nazi eine tragische Figur mit menschlich-allzumenschlichem Antlitz. Entweder sind es die Zeitläufte, oder es sind die Umstände. Hauptsache, es sind immer höhere Mächte. Niemals den Eigenanteil erfragen! Und wenn doch, dann nur so, dass es keine gesellschaftlichen Ursachen sein können. Es ist zu befürchten, dass, bei gleich bleibenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die kommenden Filme über die NS-Zeit in der Tat »romantische Liebesgeschichten im KZ mit aufrechten SS-Offizieren« werden, »die gegen Hitler kämpfen, der gar nicht in der NSDAP war« (Jürgen Kiontke).

Pure Polemik? Nicht nach den Filmerfahrungen der letzten Jahre.