Die Akten bleiben zu

geschrieben von Jan Korte

5. September 2013

Der Bundestag streitet weiter über den Umgang mit der
NS-Vergangenheit

Jan.-Feb. 2013

Die NS-Zeit zählt zu den best-erforschten Epochen deutscher Geschichte – die folgenden Jahre allerdings nicht. Als die Medien im Frühjahr 2010 thematisierten, dass in den Reihen der deutschen Sicherheitsbehörden zahlreiche NS-Täter Karriere machen konnten, BND und Verfassungsschutz aber die entsprechenden Akten mit allen Mitteln unter Verschluss hielten und eine Aufarbeitung ihrer Geschichte verhindern wollten, wurde die Forderung laut, endlich Klarheit zu schaffen und die Archive zu öffnen. Um alle Aspekte dieses Themas zusammenzufassen, erstellte die Linksfraktion eine umfangreiche, 64 Fragen umfassende Große Anfrage zum »Umgang mit der NS-Vergangenheit« (17/8134), für deren Beantwortung die Regierung fast ein Jahr benötigte.

Jan Korte ist Mitglied im Innenausschuss des Bundestages, in der Linksfraktion leitet er den Arbeitskreis III: Demokratie, Kultur, Wissen und Bildung

Die 88 Seiten umfassende Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Linksfraktion, die sich in die fünf Teile gliedert: NS-Vergangenheit von Institutionen, Prozesse und Ermittlungen gegen NS-Täter, Entschädigungen für NS-Unrecht, Fortgeltung von NS-Normen und Gedenkstätten/Erinnerungsorte, stellt gewissermaßen das erste regierungsoffizielle Kompendium zur staatlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus und zum Ausmaß der personellen Kontinuitäten dar. Wenngleich sie weniger neue Details oder bisher unbekannte Verstrickungen offenbart und darüberhinaus auch einige Fehler und große inhaltliche Leerstellen enthält, ist sie doch von einigem Wert.

Am 8. November 2012 debattierte nun endlich der Bundestag nach zwei Jahren Beschäftigung mit dem Thema über die Antwort der Bundesregierung. Die Debatte und die anschließenden Abstimmungen über zahlreiche geschichtspolitische Anträge, stellen den vorläufigen Höhepunkt der parlamentarischen Auseinandersetzung zu personellen und institutionellen Kontinuitäten zwischen NS-Regime und früher Bundesrepublik dar und offenbarten die unterschiedlichen politischen Schlussfolgerungen der einzelnen Fraktionen.

Als Reaktion auf die Anträge der Linken, die u.a. die vollständige Öffnung aller Akten und die Anerkennung des Widerstands von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime forderten, legten SPD und Grüne eigene, fast identische Anträge, die ebenfalls für eine systematische und umfassende Aufarbeitung eintraten, vor. In Folge einer Anhörung zum Thema am 29.2.2012 im Kulturausschuss kam es allerdings zu einem Schwenk der SPD. Maßgeblich durch Wolfgang Thierse (SPD) wurde nun eine inhaltliche Annäherung an die Koalition gesucht und schließlich der eigene Antrag zugunsten eines gemeinsamen mit der Koalition zurückgezogen. Dieser Antrag ist nicht nur in Anbetracht der langen Diskussionszeit ein ziemlich dürftiges Ergebnis. Anstelle einer systematischen Aufarbeitung, die auch eine vollständige Aktenfreigabe beinhalten müsste, beschränken sich Koalition und SPD auf Andeutungen und Unkonkretes. Anstatt, wie in den Anträgen von Linken und Grünen gefordert, die lückenlose Aufklärung der Beschäftigung von Massenmördern in Ministerien und Behörden anzustreben, wird die These vertreten, dass diese Aufarbeitung doch längst umfassend auf den Weg gebracht worden sei. Viel wichtiger wäre daher die Frage, wie trotz der NS-Belastungen aus der Bundesrepublik im Gegensatz zur DDR ein demokratisches Erfolgsmodell wurde.

Nachdem es in den letzten Jahren partiell gelungen war, in einigen geschichtspolitischen Themenbereichen und Auseinandersetzungen (wie z.B. 2009 bei der Rehabilitierung der sogenannten Kriegsverräter) reaktionäre Positionen im Bundestag zurückzudrängen, bahnt sich nun offenbar eine konservative Wende an. In bewährter totalitarismustheoretischer Manier versuchen Koalition und SPD-Politiker wie Wolfgang Thierse durch eine Diskursverschiebung, mit Verweis auf die »Erfolgsgeschichte Bundesrepublik«, den Blick weg von den Traditionslinien menschenfeindlicher Politik und deren Opfern, hin zu den »demokratisierten« Tätern zu lenken. Die Perspektive von Menschen wie Simon Wiesenthal, Fritz Bauer oder Beate Klarsfeld, die ihr Leben damit verbracht haben, Nazitäter aufzuspüren, um so den Opfern und Hinterbliebenen wenigstens ein wenig Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und die dabei jahrzehntelang gegen große Widerstände und weitgehend alleingelassen ankämpfen mussten, stört im Jahr 2012 offenbar bei der nationalen Identitätsstiftung. So endete die Debatte mit der Annahme eines weithin unkonkreten Antrages und der Ablehnung aller darüberhinausgehenden Anträge von Linken und Grünen. Nicht einmal einer Öffnung der mehr als 60 Jahre alten Akten wollte sich die Mehrheit von CDU/CSU, FDP und SPD anschließen. Umso wichtiger, dass auch weiterhin die Forderung erhoben wird, die Folgen der »Resozialisierung« und Integration der NS-Täter in der frühen Bundesrepublik zu untersuchen. Denn dass sich in den Behörden über Jahrzehnte hinweg Ressentiments und Feindbilder, die in der Zeit des NS geprägt oder radikalisiert worden waren, konservierten, blieb nicht folgenlos. So hielt die Kriminalpolizei bis weit in die 1960er Jahre an den Vorstellungen vom »geborenen Berufsverbrecher« fest und auch die von den Kriminalpolizeibehörden seit dem Kaiserreich vorgenommene rassistische Stigmatisierung von Sinti und Roma als »Asoziale« bestand bis in die jüngste Vergangenheit weiter. So kann man resümieren: Beim Umgang mit der NS-Vergangenheit läuft nach wie vor etwas gewaltig schief.