Die amerikanische Kassandra

geschrieben von Janka Kluge

5. September 2013

Dorothy Thompson warnte schon früh vor dem deutschen Faschismus

Sept.-Okt. 2012

Am 17. April 1942 sagte sie im Rundfunk: »Deutschland wird Frieden bekommen, wenn Leute wie Du, Hans, aus innerer Überzeugung den Patriotismus und Mut finden, sich zu erheben, um Deutschland und Europa retten zu helfen.«

1932 erschien in Amerika das Buch »I saw Hitler« der amerikanischen Journalistin Dorothy Thompson. Sie arbeitete seit 1924 als Korrespondentin für verschiedene amerikanische Zeitungen in Berlin. In dieser Zeit hat sie sich sehr intensiv mit der Entstehung der NSDAP beschäftigt. Als Grundlage diente ihr Hitlers Buch »Mein Kampf«, außerdem besuchte sie mehrfach Wahlkampfveranstaltungen der NSDAP, wo sie Hitler und andere führende Nazis hörte. 1931 bemühte sie sich um ein Interview mit Hitler. Es sollte aber Monate dauern, bis ihr im November 1931 ein Termin gewährt wurde.

In ihrem Buch beschreibt sie für amerikanische Leser den Aufstieg von Hitler und der NSDAP. »Für diese Mission hält er die Auflösung der deutschen Republik, die Errichtung einer Diktatur und die Organisation eines neuen – oder ist es das alte – wehrhaften Deutschlands. Sein Programm besteht aus einer Mischung von Faschismus, rassistische Philosophie, welche lehrt, daß `Arier´ und besonders `nordische Menschen´ dazu geschaffen sind, die Welt zu beherrschen, Antisemitismus und einem konfusen Sozialismus.«

Als der Termin da war zeigte sich Dorothy Thompson enttäuscht von Hitler. »Als ich schließlich Hitlers Salon in Hotel Kaiserhof betrat, war ich überzeugt, dem zukünftigen Diktator Deutschlands zu begegnen. Nach etwas weniger als fünfzig Sekunden war ich absolut sicher, daß dies nicht der Fall sein konnte. Genau diese Zeit brauchte es, um die erschreckende Bedeutungslosigkeit des Mannes zu erkennen, der die Welt so sehr in Neugier versetzt hat. Er ist formlos, beinahe gesichtslos, ein Mann dessen Antlitz eine Karikatur ist, ein Mann dessen Körperbau wie aus Knorpel erscheint, ohne Knochen. Er ist inkonsequent und zungenfertig, unausgeglichen, unsicher.« Dorothy Thompson fährt in ihrer Beschreibung fort und begründet warum sie der Meinung ist, dass die Mehrzahl der deutschen Bevölkerung nicht auf Hitler hereinfallen wird. »Ich dachte nach über diesen Mann vor mir, als einen Gleichen zwischen Hindenburg und Brüning und unwillkürlich lächelte ich. Oh Adolf! Adolf! Du wirst kein Glück haben.«

Dorothy Thompson hat später sehr unter ihrem Fehlurteil gelitten. Hitler hat ihr die Charakterisierung nie verziehen. 1934 wurde Dorothy Thompson aus Deutschland ausgewiesen. In den USA beschäftigt sie sich weiter mit Deutschland. Jede Woche schreibt sie eine Kolumne für die New York Herald Tribune. 1938 verfasst sie ein kleines Buch über die Flüchtlinge aus Deutschland. Im Vorwort schrieb sie: »Die Verfasserin ist mit der Problematik erstmal im Aprilheft 1938 der `Foreign Affairs´ an die Öffentlichkeit getreten, und es waren die Reaktionen auf diesen Artikel sowie die Tatsache, daß der Präsident der Vereinigten Staaten im gleichen Monat eine internationale Aktion ankündigte, die es geraten erscheinen ließen, den ursprünglichen Artikel für eine Buchveröffentlichung auszubauen.« Das Thema der aus Nazideutschland geflüchteten Menschen ließ sie nicht mehr los.

In einer Rede zu Ehren von Thomas Mann sagte Dorothy Thompson: »Entweder der Mensch ist ein vernünftiges Wesen mit unbegrenzten Fähigkeiten, oder er ist die Quintessenz von Staub. Und wenn er das letztere darstellt, dann laßt uns essen und zeugen und kämpfen und sterben und damit genug sein. Doch der Glaube, daß dies nicht die Funktion und das Schicksal des Menschen darstellt, gehört zu den leidenschaftlichen Bekenntnissen der Menschheit: und in der Tat messen wir die Tatsache inwieweit die Menschen human sind, an der Intensität dieses Bekenntnis zur Humanität, dem Bestreben wirklich human zu handeln, den inneren Traum von der eigenen Würde zu verwirklichen.«

Zwischen März und September 1942 beteiligte sich Dorothy Thompson an einer Rundfunksendung, die jeden Freitag nach Deutschland ausgestrahlt wurden. Sie nannte ihre Ansprachen »Hör zu, Hans!«. Unter demselben Titel wurden die Reden Ende 1942 auch veröffentlicht. Bei Hans handelte sich um ihren langjährigen Freund Hellmut von Moltke, der als Mitglied des Kreisauer Kreises und Mitverschwörer um Stauffenberg 1945 hingerichtet wurde. »Diese Rundfunkansprachen waren jedoch kein Hobby. Sie entstanden aus der tiefen Überzeugung heraus, daß die Politik ein erstrangiges Instrument der Kriegsführung darstellt. Dies schien mir ein Gebiet zu sein, auf dem ich mich nützlich machen konnte.« In diesen Ansprachen forderte sie »Hans« und damit die Deutschen auf, sich gegen die Nazis zu erheben. Nach dem Tod von Präsident Roosevelt am 12. April 1945 hat sich Dorothy Thompson von ihren fortschrittlichen und antifaschistischen Positionen wegentwickelt. Sie unterstützte nun Harry S. Truman und seine gegen die Sowjetunion gerichtete Politik, die schließlich zum Kalten Krieg führte.

Dorothy Thompson starb am 30. Januar 1961 in Lissabon. Es ist schade, dass von der amerikanischen Kassandra, die unermüdlich gegen die Nazis angekämpft hat, nur noch ein Titel antiquarisch erhältlich ist. Sie hat es verdient wiederaufgelegt und gelesen zu werden.