Die Flammen schreien

5. September 2013

Sima Vaisman über einen Tag im Konzentrationslagers Auschwitz

Jan.-Feb. 2010

Der nebenstehende Text – eine Momentaufnahme aus dem Lageralltag – ist dem im Düsseldorfer Lilienfeld Verlag veröffentlichten Buch »In Auschwitz. Protokoll einer jüdischen Ärztin nach der Befreiung« entnommen.

Auf der Liste des Transports Nr. 66 aus dem französischen Lager Drancy in das Vernichtungslager Auschwitz ist unter der Nr. 1070 zu lesen: Sima Vaisman, geb. 09. 10. 02, Krankenpflegerin. Die jüdische Dentistin war, ausgestattet mit falschen Papieren, nach denen sie Simone Vidal hieß, am 19. Dezember 1943 von der Gestapo verhaftet und Anfang 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Ihre kurz nach der Rückkehr geschriebenen Erlebnisse in Auschwitz wurden erst 1983 aufgefunden und 1990 in der Zeitschrift »Le Monde Juif« veröffentlicht. (antifa Januar/Februar 2009).

Wir danken dem Verlag für die freundliche Druckgenehmigung.

Wieder einmal ist eine SS-Kommission durch die Frauen-Häftlingsbaracken gezogen. Schreien, Weinen, Klagen, Gebete begleiteten die ungerührt ihre »Arbeit« verrichtenden Männer, die mit einem Lächeln über Leben und Tod entscheiden.

»Nachdem die Selektion beendet ist, betritt die aus unseren Häftlingen zusammengesetzte Verwaltung des Reviers die Bühne. Sie trennt die zum Tode Verurteilten von den anderen, den Überlebenden.

Einer der Blöcke, im allgemeinen der jüdische Block, verwandelt sich für einige Tage in eine riesige Zelle der zum Tode Verurteilten (manchmal 350 bis 600). Der Block wird umstellt, niemand außer dem Blockpersonal wird das Recht haben, dort einzudringen. Die Blockowa ist verantwortlich für die Anzahl der »Aussortierten«. Wenn eine entwischt, wird eine der Frauen des Personals ihre Stelle einnehmen müssen. Es ist nicht die Person, die zählt, sondern die Zahl …

Und dieses fremdartige, in seiner Ungeheuerlichkeit unwirkliche Leben beginnt.

Die Fälle von Wahnsinn häufen sich. Die eine schreit, die andere heult, beißt sich in die Arme, eine spricht sanft, mit einem Lächeln, das nicht mehr von dieser Welt ist, zu ihrer kleinen Tochter, ihrer kleinen Mariette, die sie neben sich spielen sieht, eine andere ist noch gleichmütig, resigniert. Eine meiner Freundinnen sagt mir mit einem seligen Lächeln, dass ich mir nicht zu viele Sorgen um sie machen soll, dass sie glücklich ist zu sterben, denn sie erfährt gerade, dass ihr Ehemann gestorben ist wie sie und sie hat es eilig, ihn zu treffen … und ihre Tochter, ihre zwei Jahre alte Kleine, die bei Freunden versteckt zurückgeblieben ist, ist derartig süß und hübsch, dass sie überall glücklich sein wird, dass alle Welt sie lieben wird, dass man ihr ihre toten Eltern ersetzen wird … Und ich weiß doch, dass niemand in den Block hineingekommen ist, dass keine von denen, die dort sind, ihren Mann gekannt hat, ihr Nachricht hat geben können. Hat auch sie den Verstand verloren? Sie ist schon drei Tage eingesperrt …

Am Abend des dritten Tages, seltener des zweiten, gibt es für uns alle wieder Lagersperre (totales Ausgehverbot). Wir hören die Geräusche der Lastwagen, die ins Revier kommen, und Geschrei aus den benachbarten Blöcken, »schnell, rasch, los …«. Wir hören die Schreie der Opfer, die sich mit all ihren spärlichen Kräften an die Türen klammern, an die Räder der Lastwagen, und die uns zu Hilfe rufen … auf die es Schläge hagelt und denen unsere Krankenschwestern helfen, auf die mit geschlossenen Planen verdeckten Lastwagen zu steigen. Diejenigen, die sich nicht mehr rühren können, die Sterbenden und die Toten, werden alle aufeinander geworfen. Man zählt sie, man sucht die fehlenden, diejenigen, die sich hinter den Block geschlichen haben, die sich an Wände gedrückt haben, um nicht gesehen zu werden. Aber man wird alle finden, die Zahl wird stimmen …

Vor dem Krematorium angelangt, wird die traurige Fracht abgeladen, indem die Ladefläche des Lastwagens gekippt wird. Die »Arbeit« muss schnell vorangehen … Man verliert auch sonst nicht viel Zeit. Die Kranken sind schon nackt, was von der Last befreit, sie zu entkleiden. Man pfercht sie in die Gaskammer, wir hören noch ein paar Schreie, ein paar Hilferufe, ein paar Namen, die im Angesicht des Todes gebrüllt werden, und dann legt sich auf alles eine Stille, eine tiefe Stille, eine Totenstille …

In der Nacht steigen breite Flammen aus den Kaminen, gewaltige, rote, breite Flammen, die nach Rache schreien …

Die Selektionen finden nicht nur im Revier statt, sie finden gleichermaßen im Lager statt. Die Kommission geht von einem Block zum anderen, alle Jüdinnen laufen, im allgemeinen nackt, an ihr vorbei. Wenn die Kommission in Eile ist, läuft man angezogen, ein kleines Handzeichen des Arztes, die Nummer wird aufgenommen, das Urteil ist unterzeichnet. Man nimmt alle diejenigen, die am ältesten erscheinen, alle diejenigen, die mager sind oder schlecht aussehen, die in ihren Lumpen einen vernachlässigteren Eindruck machen, … alle diejenigen, die die Krätze haben, eine Wunde, eine Verletzung an den Füßen … und um die geforderte Anzahl zu erreichen, wird irgendwer genommen, eine Frage des Glücks, des Zufalls.

Im allgemeinen wartete man im Block 25, bis die Zahl der Verurteilten Tausend erreichte. Sie warteten manchmal mehrere Tage, denn die Gaskammern konnten tausend Personen fassen.

»Das Gas ist teuer, es wäre schade, es für eine kleine Zahl zu verschwenden …«