Die Gefahr wächst

geschrieben von Torsten Koplin (MdL) und Robert Schiedewitz

5. September 2013

Nicht nur in Neubrandenburg gehen rechte Strategien auf

Nov.-Dez. 2008

Kiefernheide ist ein beschauliches Wohngebiet mit zahlreichen mehrgeschossigen Häusern in der Mecklenburger Kreisstadt Neustrelitz. Am 17. August 2008 ziehen hier 60 Neonazis vor Selbstbewusstsein strotzend durch die Straßen. Anhänger der NPD und »freie Kräfte« skandieren ihre Parolen. Mit einem Anflug von Verwunderung gibt die Journalistin einer Tageszeitung zu Protokoll: »Erstmals haben sich damit Angehörige der rechtsextremistischen Szene anlässlich des Todestages des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in der Residenzstadt öffentlich versammelt, in den Vorjahren war es bei der üblichen Verunreinigung der Stadt mit Aufklebern und Ähnlichem geblieben.«

Neonaziaktivitäten sind keine Seltenheit in -Mecklenburg, nicht in Neustrelitz und nicht im 35 Kilometer entfernten Neubrandenburg, im Gegenteil. Rechtsextreme prägen in der Region zunehmend die Alltagskultur; mit lautstarker Musik aus Autos und Gaststätten, mit Kleidung einschlägig bekannter Marken, mit Symbolen an Häuserwänden und vielem anderen mehr. Die Zeiten der späten 90er-Jahre, als Neonazis sich nicht in die Neubrandenburger Innenstadt trauen konnten, sind längst vorbei. Zwar blieb die Viertorestadt am Tollensesee selbst (im Gegensatz zum Umland) bislang von Kaderaktivitäten verschont, doch die Anziehungskraft rechter Gesinnung wächst massiv. Die Nazis fahren dafür eine ausgeklügelte Doppelstrategie: Das Landesparlament dient als »ideologische Bühne« und zur Provokation. In den Städten und Gemeinden wird der öffentliche Raum durch eine Mischung aus Einschüchterung und gezielter Indoktrination er-obert. Vor Jahren schon wurde Neubrandenburg zur Roten Hochburg deklariert und zum Ziel weiterer Aktivitäten der Rechten auserkoren. Jahr für Jahr zieht eine Neonazidemonstration durch so genannte Problembezirke mit Wählerpotenzial. Die Gegenaktivitäten nehmen immer mehr ab, ihre Organisation bleibt an einigen Wenigen hängen.

Die Strategie der alten und neuen Faschisten geht auf. Zum einen, weil es hier den sozialen Nährboden für sie gibt. Zukunftsängste, Verunsicherung ob nicht beeinflussbarer Geschehnisse, wie die inflationäre Kostenentwicklung und ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber »etablierten« Parteien, zu denen viele auch die Linke zählen. Zum anderen geht die Strategie auf, weil die Gegenkultur geschwächt ist, bzw. geschwächt wird. Mit der Gleichstellung rechtsextremer mit revolutionär-antifaschistischen Aktivitäten und der Diffamierung emanzipierter Jugendlicher als Staatsfeinde werden faschistische Ideologie und Gewalt relativiert. Die bürgerliche Welt in der Krise, Alternativen nicht in Sicht – das Ergebnis ist vorprogrammiert. Vielen Menschen aus Neubrandenburg und dem Umland stehen noch die Bilder des 14. Juli 2001 vor Augen. An diesem Tag kam es zu einer Gegendemonstration Tausender aufgrund eines Aufmarsches von etwa 200 Rechtsextremen. Die Gegendemonstration wurde von der Einsatzleitung der Polizei ins Chaos gesteuert. Antifaschistinnen und Antifaschisten wurden mit Wasserwerfern von der Straße gefegt, einige mussten im Krankenhaus behandelt werden. Anmelder und Aktivistinnen fanden sich vor Gericht wieder. All dies führt noch heute zu großer Verunsicherung, wenn es um Mobilisierung im Kampf gegen Rechts geht. Hinzu kommt, dass sich schulische und außerschulische Bildungsangebote, die Zivilcourage und antifaschistische Positionen entwickeln oder bestärken, seit Jahren fernab der Erfordernisse bewegen.

Notwendig ist eine verstärkte politische Auseinandersetzung mit neofaschistischem Denken und Handeln. Antifaschismus ist keine Selbstverständlichkeit mehr, nicht in Neubrandenburg, nicht in Deutschland. Ohne, dass die politischen und ökonomischen Ursachen faschistoider Entwicklung in der BRD beseitigt werden, wird es keine wirkliche Zurückdrängung derselben geben. Das setzt voraus, dass diese Ursachen als solche überhaupt erst einmal benannt werden, was ohne eine zutiefst kritische Haltung zur Art und Weise der Produktion und Verteilung der gesellschaftlichen Werte in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht möglich ist.