Die historische Wahrheit

geschrieben von Ludwig Elm

5. September 2013

Gedenktag für die Opfer des Völkermords an den Armeniern 1915

März-April 2007

Siehe auch: Ludwig Elm: Der türkisch-armenische Geschichtsstreit um den Völkermord von 1915 und die Positionen der Linken, Jena 2007, 20 S. (Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e. V. – Texte & Argumente)

»Wie Sie alle wissen, ist das türkische Armenien während der letzten zehn Jahre der Schauplatz solcher Greuel gewesen, derengleichen die beglaubigte Weltgeschichte kaum aus den rohesten Zeiten vermeldet. Bevor wir es erlebten, hatte keiner für möglich gehalten, dass eine ganze Bevölkerung solchermaßen Gegenstand von Aussaugungen, Folter und Massenmord werden könnte. Das Blut von Hunderttausenden schreit zum Himmel.«

(Georg Brandes, Armenien und Europa, Vortrag am 2. Februar 1903 in Berlin)

Der 24. April ist der Gedenktag für die Opfer eines Genozids, der von der jungtürkischen Junta an diesem Tag im Jahre 1915 mit der Deportation der armenischen Bevölkerung aus ihren Wohngebieten eingeleitet wurde. Auf dem Weg in die syrische Wüste kamen durch die von türkischen und kurdischen Trupps verübten Exzesse, durch Durst, Hunger, Krankheiten und Mord Hunderttausende um. Heute ist von bis zu eineinhalb Millionen Opfern – Kinder, Alte, Frauen und Männer – auszugehen. Es folgten die Schicksale der Überlebenden – Waisen und Verwitwete, Versehrte und Verelendete, Emigranten. Es war der tragische Tiefpunkt einer langjährigen Entrechtung und Repression der christlichen armenischen Minderheit, die bereits 1894-96 sowie 1909 opferreichen Pogromen ausgesetzt war.

Rosa Luxemburg trat 1896 dafür ein, dass die Sozialdemokratie sich mit dem Freiheitskampf der Armenier solidarisiert. Pfarrer Johannes Lepsius, Sohn eines namhaften Ägyptologen, Leiter der Deutschen Orient-Mission und engagierter Helfer der Verfolgten, legte im gleichen Jahr die Schrift »Armenien und Europa« vor. Auf Einladung des Vereins armenischer Studenten in Europa erhob der Philosophie- und Literaturhistoriker Georg Brandes am 2. Februar 1903 in Berlin Anklage gegen die an den Armeniern verübten Verbrechen und appellierte an die Verantwortung der europäischen Mächte. Als einziger Abgeordneter versuchte Karl Liebknecht am 11. Januar 1916 im Reichstag mit Anfragen an die Reichsregierung die mörderischen Geschehnisse im verbündeten Türkischen Reich und die deutsche Mitverantwortung zur Sprache zu bringen. Er erhielt keinerlei Unterstützung und ihm wurde das Wort entzogen.

Die von Wilhelm II., Deutscher Bank und Krupp angeführte Nahost-Expansion und ihr Kernstück – Bau der Bagdadbahn – hatten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Deutsche und das Osmanische Reich politisch, wirtschaftlich und militärisch eng zusammengeführt. Das wurde während des Krieges mit Tausenden deutscher Offiziere und Soldaten in der Türkei fortgesetzt. Aus politisch-militärischem Kalkül vermieden Kaiser und Kanzler ernsthafte Interventionen gegenüber der türkischen Führung. Die deutsche Beteiligung und Mitschuld ist Teil des historisch-politischen Problems. Sie reichte bis zur Beihilfe zur Flucht von Hauptverantwortlichen des Völkermords, die auf Drängen der Siegermächte 1919 vor Gericht gestellt und in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurden.

Einige Zeitzeugen gingen mit ihrem Wissen den Weg des Pazifismus und Antifaschismus. Der Dichter Armin T. Wegner fotografierte als deutscher Sanitätssoldat Todesmärsche. Die Fotos wurden Teil des Beweismaterials gegen die Täter. Wegner wurde 1919 Gründer und Vorsitzender des Bundes der Kriegsdienstgegner. 1933 protestierte der mutige Menschenrechtler gegen die beginnende Judenverfolgung. Nach Haft und Folter bei der Gestapo und in Sachsenhausen konnte er emigrieren. In der Rheinsberger Tucholsky-Gedenkstätte wird auch die Erinnerung an ihn bewahrt.

Als Übersetzer und Dolmetscher erlebte Heinrich Vierbücher 1915 bis 1918 Vertreibungen und Morde. Ab 1919 aktiv in der gewerkschaftlichen und Friedensbewegung sowie als Antifaschist, sprach er häufig über die Wahrheit und die Lehren jenes Genozids. Im Frühjahr 1933 einige Wochen inhaftiert, folgten Jahre mit Hausdurchsuchungen und Meldepflicht bei der Polizei. Nach Verfolgung und Bedrohung starb Vierbücher im Februar 1939.

Der deutsche Beistand bei diesem Völkermord im Schatten des Ersten Weltkrieges gehört zu Herkunft und Erbe des Deutschnationalismus, des Nazifaschismus und der Wehrmacht. Das gilt besonders für die rassistischen Züge eines völkischen Nationalismus, mit denen Hemmungen gegenüber der systematischen Ausgrenzung und Vernichtung großer Menschengruppen beseitigt wurden. Eine ihres humanistischen Anspruchs bewusste antifaschistische Bewegung hat den Völkermord von 1915 als solchen vorbehaltlos zu benennen. Sie ist seinen Opfern die Wahrheit über ihr Schicksal und ihren Platz in der Erinnerungskultur der Menschheit schuldig. Dazu verpflichtet auch der Tod des wegen dieser Überzeugung im Januar 2007 umgebrachten Journalisten Hrant Dink, die Solidarität mit dem aus gleichen Gründen gefährdeten Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk und allen, die Menschenrechte und Wahrheitsliebe über machtpolitisches Kalkül und Opportunismus stellen.