Die Mörder unter uns

geschrieben von Ludwig Elm

5. September 2013

Über den Umgang mit ehemaligen Gestapoverbrechern

Sept.-Okt. 2009

Klaus-Michael Mallmann/Andrej Angrick (Hrsg.): Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen, Darmstadt 2009, 368 S. (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, Bd. 14)

Der Sammelband enthält nach der Einführung durch die Herausgeber 17 Beiträge von 15 Autoren, darunter je einen von in den USA und Großbritannien sowie zwei von in Polen wirkenden Historikern. Die Gliederung folgt dem Untertitel: I. Karrieren, II. Konflikte und III. Konstruktionen. Ein Abkürzungsverzeichnis, je ein Personen- und Ortsregister sowie Angaben zu den Autoren runden den Band ab. Neben dem Schwerpunkt Bundesrepublik werden partiell auch Österreich und die DDR als »Nachfolgegesellschaften des Dritten Reiches« einbezogen. In Anlehnung an den DEFA-Film von Wolfgang Staudte »Die Mörder sind unter uns« wurde der Bucheinband gestaltet und der Titel der einleitenden Ausführungen gewählt.

In der bundesdeutschen Justiz und Rechtswissenschaft – weithin von ehemaligem NS-Personal praktiziert und gelehrt – wurden jahrelang faschistische Sichtweisen, Argumentationen und Sprachregelungen fortgeschrieben, beispielsweise zu »Bandenbekämpfung« und Geiselerschießungen in okkupierten Ländern oder um so genannte asoziale Gruppen (»Zigeuner«, Homosexuelle) zu entrechten. Jahrzehntelang wurde von der angeblichen Rechtsgültigkeit selbst von Urteilen des Volksgerichtshofes und von Standgerichten ausgegangen. Richter bekundeten Respekt vor dem Eid auf den »Führer«, vor bedingungslosem Befehlsgehorsam und Wehrmachtskameraderie. Diese wurden bei der Urteilsfindung oft höher bewertet als die Lebens- und Menschenrechte der Unterdrückten und Opfer.

Der in diesem Jahr erschienene Sammelband »Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen« erinnert an die ungeheuerlichen Verbrechen, die Angehörige der faschistischen Geheimen Staatspolizei in ganz Europa begangen haben und deckt auf, warum die meisten davon ungesühnt blieben. Er setzt Maßstäbe für den Umgang mit den Untaten wie mit den Akteuren nach 1945 und 1949.

Die Herausgeber Mallmann und Angrick gehen davon aus, dass mindestens 25.000 Angehörige der Gestapo Krieg und Naziregime überlebt hatten. Im Verlauf der Nürnberger Prozesse signalisierten ihnen das Todesurteil gegen ihren Chef Ernst Kaltenbrunner sowie die Verurteilung von Gestapo und SD als »verbrecherische Organisationen« die Positionen der Siegermächte. »Und als die Amerikaner 1948 im Nürnberger Einsatzgruppenprozess – dem Fall 9 der Nachfolgetribunale – gegen 14 von 24 angeklagten SS-Führern aus Gestapo und SD die Todesstrafe verhängten, wusste endgültig jeder, dass die Alliierten Ernst machten.« Das Personal der Gestapo war für den Automatischen Arrest vorgesehen, der für einen beträchtlichen Teil zunächst eine zwei- bis dreijährige Internierung bedeutete. Die wenigsten brachen mit ihren nazistischen Grundüberzeugungen oder räumten eigene Schuld ein. Mit dem restaurativen Umschwung in den Westzonen ab 1947/48 nahm in der Bevölkerung die Solidarisierung mit NS-Tätern als angeblichen Opfern der Sieger zu. Einige wurden – wie Klaus Barbie – von den westlichen Geheimdiensten angeheuert oder erhielten in der vom CIA protegierten Organisation Gehlen – dem späteren Bundesnachrichtendienst (BND) – neue Chancen. Andere nutzten die von Vatikan, Roten Kreuz und weiteren Helfern unterstützten Fluchtwege ins Ausland, insbesondere nach Südamerika und in den Nahen Osten. Zugleich verflachte und versandete die Entnazifizierung und führte dazu, Entlastungen auszusprechen und Persilscheine auszustellen. Auf relative geringfügige Bestrafungen wurde die Internierungszeit angerechnet.

Die Herausgeber stellen die nach Gründung der Bundesrepublik rasch fortschreitende Schuldverdrängung, Rehabilitierung und Integration dar, die die Mehrzahl der ehemaligen Gestapo-Mitarbeiter einschloss. Auf der Basis des 131er-Gesetzes vom Mai 1951 erhielten auch sie die Rechte auf Wiedereinstellung, Übergangsgelder und Pensionen. Der Weg in die bundesdeutsche Polizei sowie in BND, BKA und Verfassungsschutz – auch in leitende Funktionen – wurde geöffnet und zügig genutzt. Die gleichzeitige Verfolgung von Kommunisten und weiteren Gegnern der Politik Adenauers, die beginnende Aufrüstung und die weitgehende Rehabilitierung der Wehrmacht, das Beschweigen der Großverbrechen in vielen Ländern Europas sowie Amnestien und Verjährungen von NS-Verbrechen schufen ein politisch-moralisches Klima, in dem schließlich selbst die Vordenker und Akteure in der Zentrale der Vernichtungspolitik – im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) – von Strafen verschont blieben. Bereits vor Jahren wurden diese Vorgänge in einer Studie zu Werner Best dargestellt.

Der Weggefährte von Best im engsten Umkreis von Himmler, der ebenfalls als Vordenker bestialischer Ausrottungspolitik ausgewiesene Professor Reinhard Höhn, bleibt unerwähnt. Das dürften Dieter Hundt und weitere Spitzenpolitiker der Unternehmerverbände zufrieden registrieren: Protegiert von ihren Vorgängern hatte Höhn ab 1953 jahrzehntelang eine zweite exklusive Karriere bei der Manager-Ausbildung ihrer Verbände – von Wirtschaft, Politik und Justiz gegen antifaschistische Kritiker abgeschirmt – absolvieren können. Die Aufsätze zeigen, dass so wie Best als Justitiar bei der Firma Hugo Stinnes unterkam, zahlreiche frühere Gestapo-, SS- und SD-Funktionäre in der Wirtschaft offensichtlich wohlwollend aufgenommen wurden. Angelehnt an Feststellungen Ulrich Herberts wird im Exkurs von Mallmann und Angrick bemerkt, dass »die 1950er Jahre die große Zeit der zweiten Chance für einstige Gestapo-Angehörige« gewesen sind und viele Beispiele zeigen, »dass den höheren Gestapo-Funktionären in der Regel im Laufe der 1950er Jahre die Rückkehr in die Bürgerlichkeit gelang und dass sie damals in etwa auch die soziale Position wieder erreichen konnten, die ihrer Ausbildung entsprach.«

Die Autoren legen eine Reihe von Fallstudien und Querschnittsanalysen vor, die das kritische Gesamtbild wesentlich vervollständigen und bestätigen. Einzelfälle stellen Martin Cüppers (Walther Rauff). Stephen Tyas (Horst Kopkow), Jacek Andrzej Mlynarczyk (Ludwig Hahn), David M. Mintert (Hans Schumacher), Peter Klein (Otto Bradfisch), K.-M. Mallmann (Albert Rapp) und Stephan Linck (»Alte Charlottenburger«) vor. Bernhard Brunner überschrieb seinen Beitrag: »Ganz normale Lebensläufe. Warum die Mitwirkung an der Ermordung der französischen Juden in der Bundesrepublik kein Karrierehindernis war«. Darin bescheinigt er Ernst Achenbach, dem ehemaligen, auch mit Judendeportationen befassten Leiter der politischen Abteilung der Deutschen Botschaft im besetzten Frankreich, »in der Nachkriegszeit eine beeindruckende Karriere gemacht« zu haben: Als ehemaliger Geschäftsführer der »Adolf-Hitler-Spende der deutschen Wirtschaft« hatte der Rechtsanwalt Achenbach in den fünfziger Jahren enge Beziehungen zur Industrie sowie zu zahlreichen NS-Funktionären und war maßgeblich an den Bemühungen um Generalamnestie und die Protektion von Altnazis beteiligt. Seit 1950 MdL der FDP in Nordrhein-Westfalen und MdB (1957-1976) dieser Partei ist Achenbach zugleich exemplarisch für die bis heute unaufgearbeitete und auch im vorliegenden Band unzureichend dargestellte Rolle und Verantwortung der Bonner Staatsparteien.

Einige Verfasser behandeln komplexe Themen: Gerald Steinacher (Die Flucht von Gestapo-Angehörigen nach Übersee), Jan Kiepe (Das gesellschaftliche und rechtspolitische Umfeld bei Ermittlungen gegen ehemalige Gestapo-Mitarbeiter), Jürgen Matthäus (Die Sonderkommissionen zur Aufklärung von NS-Gewaltverbrechen), Annette Weinke (Das verhinderte Verfahren gegen die Bediensteten des Reichssicherheitshauptamtes), Jochen Böhler (Die Ermittlungen zur »Aktion Erntefest«), K.-M. Mallmann (Der Täterdiskurs in Wissenschaft und Gesellschaft), Akim Jah (Aussagemuster von Berliner Gestapobeamten nach 1945) und A. Angrick (Das Nachleben der Gestapo im Film).

Die Einleitung der Herausgeber enthält Abschnitte zu SBZ und DDR sowie zu Österreich. Einige herabsetzende Passagen zur DDR lassen kaum quellengestützte und sachliche Urteile erkennen und bleiben unter dem Niveau der Gesamtveröffentlichung. Es erscheinen die Klischees vom »verordneten Antifaschismus«, von der »Dimitroff-Formel« und von der »zweiten Diktatur«. Immerhin wird bemerkt, in »politisch wichtigen Sektoren wie Polizei, Justiz, Verwaltung oder Schule wurde kein Nationalsozialist geduldet«. In dem teils herablassenden Exkurs zu Österreich wird die Rolle der Parteien und Politiker konkreter und kritischer benannt als bezüglich der Bundesrepublik. Das verdienstvolle Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes in Wien bleibt unerwähnt.

Von Angrick gibt es einen Beitrag über das Ministerium für Staatssicherheit der DDR und die Gestapo. Darin bescheinigt er dem Braunbuch der DDR von 1965, »besonders erfolgreich« gewesen zu sein und viele RSHA- und Gestapo-Angehörige zutreffend benannt zu haben. Auch der kritische Leser könne »nicht bestreiten, dass die Hauptthese des ‚Braunbuches‘ trotz aller Polemik zutraf: dass es dem Gros der dort Vorgestellten gelungen war, ohne allzu große Schwierigkeiten wieder Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu werden und seine persönliche Biographie bestenfalls Brüche aufzuweisen hatte.« Zuvor hatte er bereits festgehalten, dass im Gegensatz zu den Westmächten und der Polizei in der Bundesrepublik das MfS »keine früheren Angehörigen der Gestapo oder des SD als Mitarbeiter anzustellen gedachte.« Das sei ihnen »aus Prinzip verwehrt« geblieben. Eine ausdrückliche Würdigung eines solch erheblichen Unterschieds zur Bundesrepublik kann von der heutigen offiziösen Geschichtsschreibung nicht erwartet werden. Es wird jedoch zugestanden: »Summiert man die in der DDR ergangenen Schuldsprüche gegen frühere Angehörige der Gestapo, erscheint die Leistung der DDR-Strafverfolgung gegen Täter, die an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen mitgewirkt hatten, beachtlich.«

Die Veröffentlichung sollte als wichtiger Beitrag zur diesjährigen aufwändigen, vielfach lückenhaften und beschönigenden Darstellung der 60jährigen Geschichte der Bundesrepublik aufgenommen und für künftige historisch-politische Bildung nachhaltig genutzt werden. Sie ist geeignet, den bundesdeutschen Anspruch, von Anbeginn und durchgängig ein Rechtsstaat gewesen zu sein, zu problematisieren und zu widerlegen.