Doppelt »verworfen«

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« in Alt
Rehse

Jan.-Feb. 2009

Rainer Stommer (Hg.)

Medizin im Dienste der Rassenideologie. Die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft« in Alt Rehse

Ch. Links Verlag 2008

ISBN: 978-3-86153-477-8

EUR 16,90

Im Jahr 2005 im erschien im Claassen Verlag das Buch »Böse Orte«. Zu den zehn darin dokumentierten »Stätten nationalsozialistischer Selbstdarstellung – heute« gehört die »Führerschule der Deutschen Ärzteschaft«, die das faschistische Regime 1935 zwecks Abrichtung der Elite des braunen Medizinapparates in dem kleinen Ort Alt Rehse nahe Schwerin in Betrieb genommen hatte. Zutreffender nennt Professor Matthias Pfüller, Leiter der für die Gedenkstättenarbeit zuständigen »Politischen Memoriale Mecklenburg-Vorpommern e. V.« Alt Rehse im Mitte des Jahres im Berliner Ch. Links Verlag erschienenen Aufsatzband »Medizin im Dienste der Rassenideologie – Die ‚Führerschule der Deutschen Ärzteschaft‘ in Alt Rehse« einen »verworfenen Ort«. Dies im Sinne von verrucht, lasterhaft – war dieser Ort doch Heimstätte der Hohen Schule der Mörder in Weiß und diente zur Ausbildung des elitären Führungspersonals im faschistischen Programm der »völkischen Rassenpolitik«. Einbezogen waren auch die Hebammen, denen die mit zwei Reichsmark honorierte Denunziation von neugeborenen »Lebensunwerten« bei den »Erbgesundheitsgerichten« gesetzlich aufgegeben war

Der Band beleuchtet unter verschiedenen Gesichtspunkten den herausragenden Platz dieses Ortes im Gesamtgefüge des Regimes. Dargestellt u. a. am nachgedruckten Lehrplan des ersten Jungärztekurses von März bis April 1936, den Namen der Rassentheoretiker, die oftmals auch als Vollstrecker tätig waren und deren programmatische Reden über die Aufgaben der »Führerschule«.«Unser Rassengedanke«, so Hitlers Beauftragter der »geistigen und weltanschaulichen Erziehung der NSDSP«, Alfred Rosenberg, »erfordert die »Ausmerzung der Erbuntüchtigen«. Oberstarzt Johannes Peltret bezeichnete im Eröffnungsvortrag den »Ausschluß der Untauglichen durch Verhinderung der Fortpflanzung« als »die großen Führungsaufgaben des deutschen Arztes« Mindestens 12 000 Ärzte, Hebammen Apotheker und andere im »Gesundheitswesen« führend Tätige sind in 14 Durchgängen von 1936 bis 1943 in Alt Rehse in diesem Sinne geschult wurden. Nur ausgewählte Mitglieder des Nationalsozialistischen Ärztebundes (NSDÄB) oder Hebammen als »Multiplikatoren des Rassegedankens« und »Erzieherinnen des Volkes« mit »sauberen« Stammbäumen wurden dafür auserwählt.

Die in dem Sammelband vorgelegten Beiträge, illustriert mit zahlreichen, zum Teil erstmals veröffentlichten Fotos (manche erkennbar aus der braunen Propagandaküche stammend) fußen auf der Tagung »Die ‚Führerschule der Deutschen Ärzteschule Alt Rehse‘ und die NS-Gesundheitspolitik«, die im Mai 2007 in Neubrandenburg und Alt Rehse stattfand. Für Matthias Pfüller ergibt sich im abschließenden Beitrag aus der Sicht der Gedenkstätten- und Erinnerungspolitik des Landes, »dass der Ort Alt Rehse und das Gutshaus nicht in den Status eines schönen Dorfes und eines problemlosen Schulungs- oder Wellness-Standortes entlassen werden können. Die Geschichte der Erinnerung, das kulturelle Gedächtnis der Gesellschaft sind auf solche historischen Orte angewiesen, um sich ihrer katastrophalen Irrtümer, der daraus entstandenen Verbrechen und der heute noch bestehenden Problem bewusst zu bleiben.« Daher müssten, so die Schlussfolgerung des Autoren. »die Bemühungen um eine Absicherung der Erinnerungsarbeit fortgesetzt und die dafür Zuständigen unter Rechtfertigungsdruck gesetzt werden.«

Das ist richtig, aber in den Wind gerufen. Nachdem die Bundeswehr 1990 das zuvor u. a. von der NVA der DDR genutzte 65 ha große Parkgelände mitsamt aller Gebäude aufgegeben hatte, war die Gelegenheit gekommen, diese in ihrer Art einzigartige faschistische Doktrinierungsstätte zu einem in Deutschland immer noch fehlenden Ort der Erinnerung an die Verbrechen der Mörder in Weiß und deren Verantwortung zu machen. Statt dessen kam es zum politischen Entsorgungsskandal: Das Bundesvermögensamt verkaufte 2005 die »Immobilie Gutspark Alt Rehse« für zwei Millionen Euro an den »Tollense Lebenspark e. V.« Bezogen auf die jüngste Geschichte könnte »verworfen« so auch stehen für etwas verwerfen, nicht annehmen.