Drei Juwele im Gespräch

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Die VVN gedachte in Berlin des 70. Jahrestages des Überfalls auf die
UdSSR

Juli-Aug. 2011

Veranstaltungs-Ankündigung

Vor 70 Jahren – 22. Juni 1941: Deutschland überfällt die Sowjetunion.

22. Juni 2011: Junge Antifaschist/inn/en reden mit:

Hanna Podymachina (* 1924 als Hanna Bernstein) war Oberleutnant der Sowjet-Armee

Prof. Dr. Moritz Mebel (*1923) war Gardeoberleutnant der Sowjet-Armee

Dr. Hermann-Ernst Schauer (*1923) kämpfte als Mitglied des NKFD bei den belorussischen Partisanen

Frido Seydewitz (*1923) musste den Vormarsch der Sowjet-Armee im Arbeits- und Straflager an der Kolyma verfolgen

Dieser Abend hatte eine besondere Atmosphäre: solidarisch freundlich, aber auch nachdenklich und melancholisch. Am Ende stieg der 92-jährige Frido Seydewitz vom Podium und tanzte mit einer Frau aus dem Publikum zu den vertrauten Klängen russischer Musik, während sich die Zuhörer nur langsam aus dem Saal bewegten. Die Erinnerung an die schrecklichen Opfer des Großen Vaterländischen Krieges stand noch im Raum, man wollte noch einen Moment miteinander reden, nicht gleich in die Nacht hinauslaufen. Vielleicht werden wir Ähnliches nicht noch einmal erleben, denn auf dem Podium hatten neben vier jungen Menschen drei hoch Betagte gesessen. Frido Seydewitz als Ältester, neben ihm die 87 jährige Hanna Podymachina und der mit seiner geistigen Frische imponierende Professor Moritz Mebel, 88 Jahre alt. Dr. Ernst Hermann Schauer, der als junger Mann bei den Partisanen in Bjelorussland kämpfte, hatte krankheitsbedingt kurzfristig absagen müssen.

Heinrich Fink und Botschaftsrat Wassiljew von der Russischen Botschaft eröffneten den Abend, erinnerten an historische Umstände und spannten den Bogen bis zur Gegenwart. Dass Geschichte auch Jahrzehnte lang unverarbeitet bleiben kann, zeigte sich für mich in der Tatsache, dass der Botschaftsrat Hanna Podymachina und Moritz Mebel, die in der Sowjetarmee gekämpft hatten, in seiner Ansprache persönlich begrüßte, Frido Seydewitz dagegen unerwähnt ließ. Schon dem Einladungstext für die Veranstaltung war zu entnehmen gewesen, dass Seydewitz den 22. Juni 1941 in einem Straflager an der Kolyma erlebt hatte, in das er nach seiner Verurteilung als »deutscher Agent« gebracht worden war. Ihn demonstrativ nicht zu begrüßen, wirkte auf mich unwürdig. Es war, als würde das offizielle Russland diesen schmerzlichen Teil seiner Geschichte noch immer verleugnen. Dabei äußerte sich Frido Seydewitz in seinem Bericht über das Erlebte später derart freundlich und großzügig, dass seine Ausführungen jedenfalls kein Bild von der Realität stalinistischer Machtausübung entstehen ließen. Seltsame Verkehrung: Der unschuldig Verurteilte warb um Verständnis, während der offizielle Staatsvertreter schwieg.

Den Hauptteil des Abends bestritten jedoch Hanna Podymachina und Moritz Mebel, die sich den Fragen der neben ihnen auf dem Podium sitzenden jungen Antifaschisten stellten. Viele der älteren Zuhörer im Saal kannten die Lebensgeschichte der beiden, sie haben schon oft darüber berichtet, auch in der antifa. Umso wichtiger, nun die Fragen der Jungen kennen zu lernen, die Enkelgeneration zu Wort kommen zu lassen. Für mich brachte diese Konstellation eine Reihe neuer Fragen und Erkenntnisse. Im gleichen Alter wie die Kinder von Moritz und Hanna, teile ich deren Sicht auf Geschichte. Sie war eingebettet in das politische und ideologische Selbstverständnis der DDR-Gesellschaft. Wenn man so will, sprechen unsere beiden Generationen bis heute die gleiche Sprache und benutzen die gleichen Begriffe.

Diese scheinbare Selbstverständlichkeit gilt für die nächste Generation nicht mehr. Eine verblüffende Erfahrung: Der Marx´sche Satz, dass die in einer Gesellschaft herrschende Ideologie immer die Ideologie der herrschenden Klasse ist, reicht bis hinein in Worte und Begriffe. Wenn man etwa versucht, die Teilnahme am militärischen Kampf der Sowjetarmee mit dem Begriff »Widerstandshandlung« zu erfassen, liegt darunter ein ganz anderes Gesellschaftsmodell. Wer die Macht hat, kann also über die Eliminierung von Begriffen auch das Wissen über die Zusammenhänge, die diese Begriffe erfassen, liquidieren. Das habe ich an dem Abend verstanden. Und noch etwas war nicht zu übersehen: Für heute Junge ist die Geschichte der DDR zu einer Art Seitenast am Baum der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland geworden. Das leidenschaftliche Plädoyer von Moritz Mebel für seine antifaschistische Heimat DDR können nach der Wende Geborene im besten Fall noch intellektuell nachvollziehen. Mehr lässt ihr völlig anderer Erfahrungshorizont nicht zu.

Wenn das aber so ist, kommt es bei der Weitergabe geschichtlicher Erfahrungen vielleicht gar nicht so sehr auf Wissen, als vielmehr auf die Vermittlung von Werten und Haltungen an? In dieser Hinsicht waren die drei betagten Gesprächspartner wirkliche Juwele – warmherzige, mutige und klare Menschen. Ein wichtiger und guter Abend.