Ein Buch der Liebe

geschrieben von Hans Hübner

5. September 2013

Bewegende Lebenszeugnisse von Zwangsarbeiterinnen bei Daimler Benz

Mai-Juni 2013

Helmuth Bauer, Innere Bilder wird man nicht los. Die Frauen im KZ-Außenlager Daimler-Benz Genshagen, Berlin (Metropol) 2010, 704 S., 39,90 Euro

Der gebürtige Ulmer und heutige Berliner Helmuth Bauer, ein promovierter Literaturwissenschaftler, gelernter Maschinenschlosser, der bei Daimler-Benz beschäftigt war, profilierter Dokfilmer und Geschichtsautor (in dieser ungewöhnlichen Reihenfolge) hat einen bewegenden Text-Bildband erarbeitet. Darin schreibt er über in der Nazizeit internierte und in Werken von Daimler-Benz ausgebeutete und erniedrigte Frauen, Männer und Kinderzwangsarbeiter aus Polen, Ungarn, der Sowjetunion, Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Deutschland. Damit ist ihm eine beispiellose und tief berührende Dokumentation gelungen, die auch künstlerischen Ansprüchen gerecht wird. Zugleich erleben wir die Geschichte des Vorzeige-Konzerns Daimler-Benz und seine Verquickung mit dem Hitlerstaat, der Jahrzehnte vehement leugnete, in seinen Betrieben jemals KZ-Häftlinge beschäftigt zu haben. Zugleich weigerte sich der Konzern, den Überlebenden »Entschädigungen« zu zahlen. Besonders angetan haben es Bauer die Warschauer »Genshagenerinnen«, die ihren Helmuth heute liebevoll verehren, und die ungarischen Jüdinnen, zu denen die Bildhauerin Edit Kiss gehörte, die einen Zyklus mit 30 Gouachen über das Leben und Leiden in Ravensbrück und Genshagen schuf.

Mit dem Ausruf »Es ist vollbracht!« beginnt Siegrid Jacobeit, die langjährige Direktorin der Mahn-und Gedenkstätte Ravensbrück, die das Großunternehmen begleitete und förderte, ihr Vorwort. Denn die Nachforschungen, verbunden mit zahlreichen Interviews bei Begegnungen und Ausstellungen und beim Filmen in Deutschland, Ungarn und Polen dauerten bis zu ihrer Reife mehr als 20 Jahre.

Zum 100-jährigen Firmenjubiläum im Jahr 1986 hatte sich Daimler-Benz in einer Festschrift selbst gelobt und den Mercedes- Stern als Symbol für »Leistung und Qualität, Fortschritt und Beharrlichkeit, Pioniergeist und Zuverlässigkeit« hingestellt. Dass in der Zeit des Faschismus der Konzern sich demonstrativ dem Hitlerstaat als »nationalsozialistischer Musterbetrieb« mit der Lieferung von Panzer-, Schiffs- und vor allem Flugzeugmotoren für »die besten Waffen …zu Lande, zu Wasser und in der Luft« andiente, spielte dabei keine Rolle. Der Konzern wollte mitsiegen für Führer, Volk und Daimlerstern, der in Werbeanzeigen wie ein Zwillingsbruder des Hakenkreuzes dastand. Während des Krieges stellten dann 60 000 Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge die Hälfte der Beschäftigten.

Bereits in den 1980er Jahren wiesen Verantwortungsbewusste wie Helmuth Bauer auf diese Tatsache hin und erinnerten Daimler-Benz daran, die noch lebenden einstigen Arbeitssklaven materiell zu entschädigen. Zwar flossen allmählich Mittel für Nachforschungen und Begegnungen, doch Zahlungen an die einstigen Häftlinge ließen lange auf sich warten.

Auf einer Fläche von 1,5 km Breite und 4 bis 5km Länge entstand nach 1935 das neue Werk Genshagen in der Nähe des damaligen Örtchens Ludwigsfelde.

In dem Buch geht es um die Geschichte der gigantischen Fabrik Genshagen und ihrer zwangsweise dort Arbeitenden, wie auch der deutschen Arbeiter. Die ersten drei Kapitel beschäftigen sich mit den Biografien der beiden ungarischen Jüdinnen Edit Kiss (1905-1966) und Agnes Bartha (geb. 1922) und ihrer deutschen Freundin Friedel Malter (1902-2001). Sie gehörten zu den 1100 Frauen, die von der SS und Konzernvertretern im Herbst 1944 für die Arbeit in Genshagen ausgesucht wurden, wo sie Kampfflugzeugmotoren montieren mussten.

Bauer zitiert – als eine Stimme von vielen – die Überlebende Eugenia Goldberg, wie im KZ Ravensbrück die Frauen für Genshagen ausgewählt wurden:

»Als wir im Lager waren, kamen Fabrikanten mit der Absicht, sich Arbeitskräfte auszusuchen. Wir wurden peinlich genau angeguckt und ausgesucht. Wir standen eine hinter der anderen, nackt. Mütter, Schwestern, Tanten und Großmütter, was wir nicht einmal von Zuhause kannten. Und dies in Anwesenheit der SS-Frauen, eines deutschen Offiziers und der Fabrikleute.«

Nur dürftig bekleidet und schlecht ernährt, arbeiteten in Genshagen dann die Frauen in eisigen Hallen 12 Stunden täglich, in Hoch-Zeiten auch 24 bis 36 Stunden hintereinander. Viele starben. Die sensible und erkrankte Bildhauerin Edit Kiss überlebte nur dank einer List der deutschen KZlerin Friedel Malter, die als Schreiberin des SS-Führers im Werk eingesetzt war. sie strich Edit von der Liste, als diese Anfang 1945 in das Lager Ravensbrück zurückgeschickt werden sollte, wo die Gefahr bestand, dass sie wegen Arbeitsunfähigkeit vergast werden könnte. Friedel setzte an ihre Stelle den Namen einer Toten. Edit Kiss schuf unmittelbar nach der Befreiung 1945 in Budapest den geschlossenen Zyklus »Deportation« mit 30 Arbeiten über ihr Leben und das Leid ihrer Kameradinnen in Ravensbrück und Genshagen. Die Arbeiten sind in diesem Buch als Farbabbildungen erstmalig vollständig abgedruckt. Edit Kiss ging 1948 in den Westen und lebte vor allem in Paris, wo sie sich – nach langen Depressionen – 1966 das Leben nahm. Das Album mit ihren Arbeiten fand Helmuth Bauer Jahrzehnte später Anfang der 1990er Jahre in London. Ihre Freundin, die Fotografin Agnes Bartha, und die Arbeiterin und Kommunistin Friedel Malter, die in der DDR hohe Funktionen wie die einer Staatssekretärin hatte, sahen sich nach 1990 wieder. Sie sorgten zusammen mit Helmuth Bauer dafür, dass das Andenken an Edit Kiss und ihre Leidenskameradinnen nicht verblasste.

Die Kapitel 4 und 5 befassen sich mit der Selbstdarstellung und der wirklichen Geschichte sowie den Schattenseiten der Daimler Benz AG und seines größten Werkes in Genshagen. Die Darstellung ist streng kompromisslos und dokumentarisch, doch manchmal spürt man die verhaltene Wut Helmuth Bauers, wenn der Konzern seinen moralischen Verpflichtungen gegenüber den ausgebeuteten Frauen nicht nachkam. Auf einem neuen Gedenkstein für die toten Frauen des KZ-Außenlagers Daimler Benz Genshagen in Ludwigsfelde fehlte im Jahr 1995 der Firmenname.

1991 bat Helmuth Bauer bei einer Zusammenkunft des internationalen Ravensbrück-Komitees die anwesenden Delegierten in ihren Ländern Namen und Adressen von Frauen ausfindig zu machen, die im Lager Genshagen waren. Bangen Herzens, wie sie sein Anliegen aufnehmen würden, fuhr Bauer mit einem Film-Team nach Warschau. »Schwankend zwischen Genugtuung und ungläubigem Staunen«, schreibt Bauer, waren damals die Frauen darüber, dass tatsächlich jemand aus Deutschland kam und sie ernsthaft nach ihrer Geschichte und ihren Erlebnissen befragte. Und er hörte von der polnischen Tragödie, von Deportationen und Massenmorden an der Zivilbevölkerung. Ihren Lebensberichten sind im Buch Fotos der damaligen jungen Frauen ebenso beigegeben wie heutige Aufnahmen, auf denen Bauer die Schönheit alter Frauen, die ihre Würde wiederfanden, veröffentlicht. Nach den Filmaufnahmen trafen sich die polnischen »Genshagenerinnen« regelmäßig in einem Klub.

Die Interviews waren später Grundlage und Mosaiksteine für das Buch sowie für Ausstellungen und Filme wie »Der Stern und sein Schatten. Daimler Benz kehrt zurück in die Genshagener Heide« (1994) und »Für Lohn und Würde« (1999), in denen gezeigt wird,wie die polnischen Zwangsarbeiterinnen Daimler Chrysler verklagten. Denn sie wollten keine »Entschädigungen« sondern verlangten Nachzahlungen des ihnen vorenthaltenen Lohnes. Die haarsträubenden Ausreden der Konzernvertreter lauteten dann, dass man den Aktionären solche finanziellen Beträge nicht zumuten dürfe und dass es sein könne, dass ein Antragsteller dabei sei, der nicht bei Daimler Benz eingesetzt war. (Von den 60.000 zwangsweise bei Daimler Benz Arbeitenden lebten 1999 vielleicht noch einige Tausend.) Die polnischen Frauen erhielten nicht den eingeklagten Lohn. Doch nach 2000 bekamen sie wie die anderen noch lebenden Zwangsarbeiter – über 55 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs und jahrelangen beschämenden Verhandlungen – »Entschädigungen« aus einem Fonds, in den die Bundesrepublik und die deutsche Industrie eingezahlt hatten.

Das populärwissenschaftliche, menschlich anrührende und ausgereifte Werk ist für mich von der Form her etwas ganz Neues und Besonderes, ein Meilenstein moderner und unkonventioneller Geschichtsdarstellung. Mit den Bildern einer Edit Kiss und den sorgfältig ausgewählten und montierten Erinnerungszitaten zum Alltag, Überleben und Widerstehen im Daimler-Benz-KZ-Lager ist es auch ein Kunstbuch, das mit reichem historischen Material ausgestattet ist.