Ein Sonntagskind?

geschrieben von Alfred Fleischhacker

5. September 2013

Vom jüdischen Flüchtlingsjungen zum weltbekannten
Immunologen

Jan.-Feb. 2010

Besonders erzürnt hatte ihn – da war er schon Jahrzehnte parteilos – die Art und Weise wie der damalige Premierminister und Vorsitzende der Labour Party Tony Blair seine Landsleute mit wissentlich falschen Behauptungen an die Seite Bushs im Krieg gegen Irak manövrierte.

Leslie Baruch-Brent, Ein Sonntagskind? Vom jüdischen Waisenhaus zum weltbekannten Immunologen.

Berliner Wissenschaftsverlag, 358 Seiten, EUR 29,-

In einer ihrer letzten Rot-Kreuz-Mitteilungen an ihren Sohn Lothar hatten die Eltern 1942 geschrieben »Du bist eben ein Sonntagskind!« Warum wohl setzte der Autor hinter den Titel seiner Autobiografie ein Fragezeichen. Rückversicherung oder Koketterie? Man wird sehen.

Nur die ersten acht Jahre seines Lebens verliefen unspektakulär und wie die anderer nach dem ersten Weltkrieg in jüdischen Familien geborener Kinder. Die seine wohnte in der Kleinstadt Köslin, östlich der Oder. In solchen überschaubaren Gemeinden hat die »Deutsche Volksseele« bereits früher als in den großen Zentren ihre Abneigung gegenüber jüdischen Mitbürgern artikuliert. Die Eltern wussten die mit schwingenden Hakenkreuzfahnen gesendeten Signale richtig zu deuten. Familie Baruch schickte ihren erstgeborenen Sohn Lothar nach Berlin. Dort fand er Aufnahme im jüdischen Waisenhaus Pankow, konnte bis zur Pogromnacht seine Schulbildung fortsetzen und gehörte zu den Ersten, die im November 1938 mit einem Kindertransport nach England kamen. Die Eltern und die ganze Familie fielen der fabrikmäßig organisierten faschistischen Vernichtungspolitik zum Opfer.

Fast nahtlos fand Lothar, nun Leslie, Aufnahme in einem Internat, das 1933 von Hanna Essinger, einer begnadeten Pädagogin als jüdisches Landschulheim in Herrlingen gegründet wurde. Sie emigrierte schon ein Jahr später nach England und etablierte in Bunce Court im Distrikt Kent unweit von London einen Ableger ihrer Schule. Dort setzte sie ihre pädagogischen Erfahrungen und Erkenntnisse für Flüchtlingskinder aus Deutschland ein.

Rückblickend schreibt Leslie Baruch: »Am wichtigsten waren vielleicht die Lehrer, die sich alle zutiefst verpflichtet sahen, eine liberale und menschenfreundliche Einrichtung zu leiten. Alle haben sich aufrichtig um ihre ›Kinder‹ gekümmert.« Auch einige hundert Jugendliche, die in Hitler-Deutschland und den okkupierten Ländern die Ghettos und KZs überlebt hatten und Ende 1945, Anfang 46 in England Aufnahme fanden, konnten ihre traumatischen Erlebnisse in Bunce Court mit Hilfe der Pädagogen nach und nach überwinden.

Als die britische Regierung Ende 1943 jüdischen Emigranten die Aufnahme in die britische Armee ermöglichte, meldete sich Leslie, änderte seinen Nachnamen in Brent und diente in den Streitkräften. 1947 wurde er mit einem Offizierspatent in Ehren aus der Armee entlassen.

Ein neuer Lebensabschnitt begann für ihn mit der Aufnahme eines Biologiestudiums an der Universität Birmingham. Einer seiner Lehrer, sein späterer Doktor-Vater, entdeckte sehr schnell das außergewöhnliche Talent seines Schülers. Er integrierte ihn in ein Team von Wissenschaftlern, das sich der Forschung im Bereich der Organtransplantation verschrieben hatte. Brents Förderer, Prof. Medawar, wurde für seine bahnbrechenden Erkenntnisse auf dem Gebiet der »Immunologischen Toleranz« 1960 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. In der Fachwelt ist unbestritten, dass Brent, der ebenfalls als begnadeter Naturwissenschaftler galt, daran großen Anteil hatte.

Trotzdem lag es ihm fern, sich jenseits vom profanem Tagesgeschehen in einen Elfenbeinturm zurückzuziehen. Im Gegenteil. Die Politik – die kleine im Wahlkreis ebenso wie die große auf dem Planeten Erde – faszinierte ihn immer. Als er in seiner Zeitung, dem »Guardian«, 1966 einen Artikel über die verzweifelte Lage von vietnamesischen Kindern las, die in dem von den USA provozierten und geführten Krieg zu Waisen wurden, mischte er sich ein. Gemeinsam mit Kollegen verschiedener Universitäten gründete er einen Hilfsfonds für die Kinder, auf dessen Konto binnen Wochen 30.000 Englische Pfund überwiesen wurden. Viele Jahre war Brent auch aktives Mitglied der Labour Party. 1980 kehrte er dieser den Rücken: »Ich konnte nicht länger einer Partei angehören, die ihre Mitglieder so schäbig und ungerecht behandelte und zudem außerstande war, Fehler einzugestehen«.

Diese Buchbesprechung wäre unvollständig, würde man des Autors Gedanken über das Entstehen des Staates Israel, das Judentum, den Zionismus und den Antisemitismus unterschlagen. Auf knapp 15 Seiten kann man seine Überlegungen zu Problemen nach der Gründung des Staates Israel 1948 nachlesen. Trotz der jahrzehntelangen Bemühungen der UNO ist es bis heute nicht gelungen, substanzielle Fortschritte zu erreichen. Seine Schlussfolgerung: »So wie ich es sehe, kann es nur zu einer Lösung des Problems Palästina-Israel kommen, wenn beide Seiten die Vorstellung von einem unabhängigen arabischen Palästina und einem Israel mit sicheren Grenzen teilen, wenn Israel auch die illegalen Ansiedlungen im Westjordanland beendet.«

Auch naturwissenschaftlich und spezifisch mit »dem Phänomen der immunologischen Toleranz« nicht vertraute Leser kommen beim Lesen sie dieses Buch auf ihre Kosten.