Ein Teufelskreis

5. September 2013

Sinti und Roma werden in ganz Europa ausgegrenzt

Nov.-Dez. 2011

Pogromartige Zustände und Stimmungsmache gegen Roma und Sinti breiten sich immer stärker in Europa aus. In den vergangenen Wochen haben neben Neonazis auch Bürger aus der sog. Mitte der Gesellschaft in den tschechischen Städten Novy Bor, Rumburk und Varnsdorf Roma angegriffen. Ähnliche Vorfälle sind aus dem bulgarischen Katuniza bekannt. Auch in Rumänien und Ungarn wird in Politik und Medien gegen diese Minderheit Stimmung gemacht. Dabei werden die strukturellen Bedingungen dieser Diskriminierungen genauso oft übersehen, wie der wachsende Rassismus gegenüber Roma in Deutschland.

Sevim Dagdelen ist Sprecherin für Migrations- und Integrationspolitik der Linksfraktion im Bundestag

Im Zuge der EU-Osterweiterung wurde deutlich, dass Roma überdurchschnittlich hoch von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Dabei wirkt sich die neoliberale Umgestaltung Osteuropas nach dem Fall der Mauer mit ihren Verwerfungen in der Arbeitswelt verstärkend auf bereits bestehende Strukturen der Diskriminierung der Roma im Alltag aus. Intensiviert wird die Ausgrenzung dabei auch durch Behinderungen bzw. fehlendem Zugang zum Erwerb von beruflichen Qualifikationen und Bildung. Ein Teufelskreis aus gewaltverherrlichender Hetze und sozialer Ausgrenzung auf der einen und der Verwehrung demokratischer Teilhabe auf der anderen. Die vom Neoliberalismus ausgehenden sozialen Konflikte führen vermehrt zu einer Abkapselung der Mehrheitsgesellschaften von rassistisch und kulturell als »fremd« definierten Teilen der betroffenen Gesellschaften. In zehn mittel- und osteuropäischen Staaten sowie dem Mittelmeerraum der Europäischen Union (EU) wird die Arbeitslosigkeit von Roma auf ca. 70 bis 90 Prozent geschätzt. Die Mehrheitsgesellschaften reagieren darauf oftmals mit Gewalt, Ausgrenzung und steigenden Ressentiments gegenüber einer als Sündenbock definierten Personengruppe.

Angesichts dieser prekären Lage versuchen einige Roma ihre Zukunft in anderen Mitgliedstaaten der EU zu finden und zu gestalten. Vielfach werden ihnen dabei jene Rechte verweigert, die ihnen als Bürger der EU zustehen. Dabei gewinnt eine der sogenannten europäischen Grundfreiheiten, die Personenfreizügigkeit, eine besondere Rolle, wenn betroffene Roma aus dem Teufelskreis der Ausgrenzung ausbrechen wollen.

Kontinuitäten des Antiziganismus

Allein in Berlin leben nach unterschiedlichen Schätzungen ca. 200.000 Roma. Ihr Leben ist weitgehend geprägt durch Ausschluss aus dem öffentlichen Leben, fehlenden Bildungszugang und Arbeitslosigkeit. Gerade die Medien tragen bei allen Unterschieden und Differenzierungen wesentlich zur Verbreitung und weiteren Manifestation antiziganistischer Zuschreibungen bei.

Der Antiziganismus fand seinen bisherigen Höhepunkt im Völkermord an vermutlich einer halben Million europäischer Sinti und Roma. Nach 1945 ging es mit der staatlichen Verfolgung nahtlos weiter – oftmals auch in personeller Kontinuität. So konnte Hermann Arnold, der nachweisbar grausame und oft tödliche Menschenversuche an Roma vorgenommen hatte, sein rassistisches Menschenbild vom volksschädigenden »asozialen Zigeuner« als vermeintlicher »Zigeuner-« und »Asozialen-Experte« bis in die 1980er Jahre in seinen Publikationen in der Bundesrepublik vertreten. Andere kamen bzw. blieben in den »neuen« Polizeiapparaten. Es überrascht nicht, dass die seit 1899 existierende Sondererfassung von Sinti und Roma auch nach 1945 weiterging. Dabei dienten die in der Nazizeit angelegten Akten des Reichssicherheitshauptamtes zu ihrer weiteren »Strafverfolgung«. Wer in der Nazidiktatur als »Zigeuner«, »Landfahrer«, »ZN« (Zigeunername) oder »HWAO« (Person mit häufig wechselndem Aufenthaltsort) erfasst wurde, wird heute im Polizeijargon als »MEM« (mobile ethnische Minderheit) »kategorisiert«. Dagegen müssen Sinti und Roma bis heute für die Anerkennung als Verfolgte des Naziregimes und um Entschädigungsleistungen kämpfen.

Herausforderung für linke Politik

Vor diesem Hintergrund stellt sich auch die Frage, wie verhindert werden kann, dass die Ressentiments in den jeweiligen Zielländern, insbesondere Deutschland, verhindert werden können und welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, damit die Rechte der Roma auch in ihren Herkunftsländern gewährleistet werden können. Am 10. Dezember 2011 wird in Berlin eine Internationale EU-Roma-Konferenz der europäischen Linksfraktion GUE/NGL, der Bundestagsfraktion Die Linke und der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Thema »Willkommen zu Hause? Situation der Roma in der EU« stattfinden. Aber besonders vor Ort, in der Gemeinde, im Stadtteil, ist Austausch, Aufklärung sowie Beratung und Vernetzung für Roma und die Mehrheitsgesellschaft notwendig und wichtig. Viele Menschen kennen die Geschichte und die konkreten Lebenssituationen von Roma nicht und unterliegen auch deshalb den reproduzierten Ressentiments. Im Gespräch miteinander kann durch Vermittlung so manches Vorurteil behoben werden. Aus Erfahrung in meinem Wahlkreis weiß ich, dass z. B. mit der Vorführung des Films »Im Ghetto – Die Roma von Stolipinowo«, der auf beeindruckende Art die verheerenden Lebensumstände der Roma in ihren Herkunftsländern schildert, mehr Wissen und Verständnis vermittelt werden kann.