Eine jüdische Kindheit

geschrieben von Alfred Fleischhacker

5. September 2013

Kurt Tucholskys Großcousine erinnert sich

Jan.-Feb. 2008

Die Autorin war gerade erst sieben Jahre alt, als ihr Verwandter aus den Leben schied. 1935 in Schweden, wo er Asyl und Schutz vor Verfolgung gefunden hatte. Wäre Kurt Tucholsky nach der Machtübernahme der Braunhemden auch nur ein paar Tage länger in seinem Geburtsland geblieben, ein Schicksal nicht unähnlich dem seines Freundes und Kollegen Ossietzky wäre ihm sicher gewesen. Zumal er auch noch jüdischer Herkunft war.

Wie sich das Ausgrenzen, Einkreisen und Entrechten im Land der Dichter und Denker im Einzelnen vollzog, das schildert die Großcousine. Zum besseren Verständnis der Leser ein paar trockene Fakten zum familiären Hintergrund. Die Mutter der Autorin Brigitte Rothert war eine geborene Tucholsky. Kurt, der Journalist und Schriftsteller, war ihr Cousin. Brigittes Mutter heiratete in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts einen Mann namens Jährig, 1928 wurde Brigitte als einziges Kind der Ehe geboren.

1933 übernahmen die Nazis die Macht und begannen sofort, die jüdischen Mitbürger auszugrenzen. »Rasseexperten« legten fest, wer in welchem Grad davon betroffen war. Der Vater, als sogenannter Arier, nicht. Doch der wollte mit dem Makel nicht leben, mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Ganz schnell ließ er sich scheiden. 1935 wurden auf einem »Reichsparteitag« in der Frankenstadt die »Nürnberger Gesetze »verkündet. Die Verfolgungen nahmen zu. Brigitte Rothert schildert, wie sie die Pogromnacht des 9. November l938 erlebte. Kurze Zeit später wurde ihre Mutter von der Gestapo verhaftet und wochenlang eingesperrt. In dieser Situation wandte sich die verzweifelte Zehnjährige an ihren Vater. Doch der wies sie kaltschnäuzig ab. Hinzu kam die ihr zuteil gewordene Behandlung in der Schule. Bis zu diesem Zeitpunkt galt sie in den Augen der Lehrer als sehr gute Schülerin. Über Nacht wurde sie zu einer minderwertigen Ausgestoßenen.

Ab 1942, als die Deportationen der Dresdener Juden nach Theresienstadt begannen, wurde die Lage für Mutter und Tochter immer schwieriger. Rat und gelegentlich auch Hilfe erfuhren sie von einigen anständig gebliebenen Nachbarn und von ihrem Leidensgefährten Victor Klemperer. Dass der nicht auf die Deportationsliste kam, verdankte er seiner »arischen« Frau.

Sie hielt standhaft und treu zu ihrem Mann und schützte ihn. Doch für die Jährigs wurde es immer enger. Besonders, seit sie sich mit dem gelben Judenstern auf der Brust bei jedem Gang auf die Straße in eine kaum zu kalkulierende Gefahr begeben mussten.

Das schon programmierte Unglück indes nahm seinen Lauf. Anfang Februar 1945 erhielt die Mutter die Aufforderung, sich am 16. des Monats zu einer vorgegebenen Zeit mit einigen wenigen Habseligkeiten an einer bestimmten Stelle zum Abtransport nach »Osten« einzufinden. Die Bombardierung und weitgehende Zerstörung der Stadt durch englische und amerikanische Flugzeuge am 13. Februar bewahrte die beiden vor dem Schlimmsten.

Erst diese Fügung und das, nach der Befreiung Deutschlands von der faschistischen Pest möglich gewordene, wirkliche Leben ermöglichten der Autorin, sich mit den familiären Wurzeln und der literarischen Hinterlassenschaft des leidenschaftlichen Pazifisten Kurt Tucholsky zu befassen. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Russischlehrerin. Half jungen Schülerinnen und Schülern die Sprache jener kennen zu lernen, die das östliche Deutschland befreit hatten.

Bis in die jüngste Zeit unterrichtete sie jüdische Zuwanderer aus Russland, um ihnen die Anpassung an eine neue Umwelt zu erleichtern. Und folgerichtig entschied sie sich auch, alles über ihren großen Verwandten zu erfahren. Jahrelang bestimmte diese Entscheidung ihr Leben. Zu Beginn wurde ihr der einige Jahrzehnte ältere, väterliche Freund Klemperer noch einmal zum hilfreichen Ratgeber.

Brigitte Rothert-Tucholsky

Tucholskys Grosskusine erinnert sich

Leonhard-Thurnmeysser Verlag Berlin & Basel, Preis: 12,80 Euro

Bis heute ist die Autorin Anlaufstelle für viele, die mehr über ihren Großcousin wissen wollen. Museen, Medien, Schulen. Sie ist langjähriges Mitglied der Deutschen Tucholsky Gesellschaft. In ihren Aufzeichnungen hat die Autorin auch die mit der Gründung der DDR beginnende Zeit Revue passieren lassen.

Ihr Fazit: Es waren Jahre beruflicher Erfüllung, sozialer Sicherheit, physischer Geborgenheit und kultureller Wissensmehrung. Mit Abstand haltender Distanz bewertet sie dagegen die letzten beiden Jahrzehnte.