Eine starke Frau

geschrieben von Mathias Meyers

5. September 2013

Vor 100 Jahren wurde Ettie Gingold geboren

März-April 2013

Am 17. Februar 2013 feierten Etties Freundinnen, Kameraden, Genossinnen und Weggefährten ihren 100. Geburtstag mit einer gelungenen Matinee. (www.gingold-initiative.de)

In Frankreich genossen die Gingolds – wie alle Teilnehmer am antifaschistischen Befreiungskampf, aus welchem Land sie auch immer gekommen waren – Anerkennung und Respekt. Als Etties zweite Tochter in den 70er Jahren Berufsverbot erhielt und als Kommunistin nicht Lehrerin werden sollte, war es wiederum die internationale Solidarität, vor allem aus Frankreich, die entscheidend dazu beitrug, dass auch diese staatliche Absicht durchkreuzt werden konnte.

»Wir verneigen uns vor einer ungewöhnlichen Frau – derer sich die offizielle Frankfurter Stadtgeschichte einst noch erinnern wird. Erinnern dann, wenn das stille und mutige Leben der Heldinnen des antifaschistischen Widerstandes zum selbstverständlichen Gedankengut des öffentlichen Lebens gehören wird.« Ellen Weber im Juni 2011.

Ettie Gingold war Zeit ihres Lebens eine mutige, kämpferische und außergewöhnlich engagierte Frau: Kommunistin, Jüdin, Antifaschistin und Kriegsgegnerin.

Sie war 21 Jahre alt, als sie Mitte der 1930er Jahre aus der rumänischen Provinz nach Frankreich emigrierte. Nach dem Abitur interessierte sich Ettie Stein-Haller für Sprachen, insbesondere für Französisch. Deutsche Verwandte, als Kommunisten bald nach der Machtübertragung an die Faschisten zur Emigration gezwungen, lebten zwischenzeitlich in der französischen Hauptstadt. »Mit 21 Jahren kam ich also nach Paris. Für mich war die Welt wie verwandelt, als ich von so einem kleinen Kaff in die riesige Stadt Paris kam.« Die junge Frau war politisch interessiert, hatte schon Gorki, Ehrenburg und andere fortschrittliche Literatur gelesen und lernte im Umfeld der Gastfamilie deutsche emigrierte Jugendliche kennen. Mit diesen organisierte sie sich in einer antifaschistischen Jugendgruppe, war Mitbegründerin der FDJ und kämpfte während der Naziokkupation in der französischen Widerstandsbewegung Résistance gegen den deutschen Faschismus. Sie war Kurierin, stellte Flugblätter her und sorgte für die Verteilung – z.B. an Treffpunkten deutscher Soldaten. Mit ungeheurem Mut und jeder denkbaren Entschlossenheit schrak sie vor keiner Anforderung zurück.

Sofort nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich beteiligte sich Ettie, mittlerweile verheiratet mit Peter Gingold, an Flugblattaktionen und vielen Versuchen, unter den deutschen Soldaten aufklärend zu wirken. Ihre Gruppe unterstützte zudem Internierte und deren Familien. Ettie Gingold arbeitete als Kurierin für die KPD im französischen Exil; sie war an der Herstellung und Verteilung von antifaschistischen Zeitungen beteiligt. Nach der Besetzung von Paris durch die deutschen Truppen war Ettie Gingold als Jüdin und Kommunistin täglich von Verhaftung bedroht. Immer wieder gab es Razzien und ab 1942 massenhafte Deportationen der jüdischen Bevölkerung in die KZ und Vernichtungslager. Ettie Gingold versorgte ihre 1940 geborene Tochter sowie zwei Kinder ihrer nach Auschwitz deportierten Schwägerin Dora Gingold, organisierte versteckte Unterkünfte, transportierte illegales Material – sie war unermüdlich und entschieden, alles zu tun was ihr möglich war um den Widerstand zu unterstützen. Die Résistance erhielt – offen oder verdeckt – häufig Unterstützung durch die Bevölkerung. So wurde Ettie Gingold zum Beispiel am 16. Juli 1942 von einem Nachbarn, einem von der Frühschicht nach Hause kommenden Metrofahrer gewarnt, dass unzählige Polizeiomnibusse im Einsatz seien, die jüdische Bevölkerung aus den Wohnungen zu holen. Ettie Gingold floh mit ihrer Tochter und erhielt einen nächsten Unterschlupf von einer befreundeten Concierge.

Nach der Befreiung Frankreichs im August 1944 arbeitete sie im Pariser Büro der Bewegung Freies Deutschland und lebte ab 1946 mit ihrem Mann in Frankfurt am Main. Sie wäre gerne in Paris geblieben, aber »ich sah die politische Notwendigkeit ein, da alle antifaschistische Kräfte für die Neugestaltung gebraucht wurden« So trat sie in den Reihen der KPD für ein neues, antifaschistisches Deutschland ein. Bekannt wurde sie vor allem als Friedenskämpferin. Sie sammelte in den 50er Jahren Tausende Unterschriften unter den Stockholmer Appell – gegen die drohende Atombewaffnung – und erneut in den 80er Jahren mehr als 12.000 Unterschriften unter den Krefelder Appell. Neben Willy Brandt, Heinrich Böll und Petra Kelly war Ettie 1983 eine der Rednerinnen auf der legendären Bonner Hofgartenkundgebung der Friedensbewegung.

Als Zeitzeugin sprach sie vor Jugendgruppen, Schulklassen und auf vielen Veranstaltungen der Gewerkschafts-, der Frauen- und der Friedensbewegung.

Die Stadt Frankfurt am Main ehrte sie 1991 mit der Verleihung der Johanna-Kirchner-Medaille.

Nach dem 1956 erfolgten Verbot ihrer Partei, der KPD, wurden die Gingolds als »Staatenlos« erklärt, die westdeutschen Behörden zogen die Personalpapiere ein und sie erhielten Pässe mit dem Vermerk »Nur im Inland gültig«. Erst nach jahrelangen Bemühungen und mit internationaler Unterstützung gelang es, diese dreiste Diskriminierung zu beenden. Den Antrag auf Erteilung der deutschen Staatsbürgerschaft beantwortete die BRD zunächst ebenfalls ablehnend. Erneut gab es Proteste und viel Solidarität.

»Ich kann sagen, dass wir nicht überlebt hätten, wenn wir nicht gekämpft hätten«, fasste Ettie ihre Erfahrung aus dem antifaschistischen Kampf schnörkellos zusammen. Sie war politische Aktivistin, ihr Leben lang, war berufstätig in wechselnden Bürotätigkeiten, Mutter zweier Kinder und Großmutter von vier Enkeln – und zudem über Jahrzehnte eine legendäre Gastgeberin.