Elementare Fragen

geschrieben von Dirk Krüger

5. September 2013

Eine Erinnerung an Peter Weiss aus Anlass seines 30. Todestages

Mai-Juni 2012

Im März 1964 ist Peter Weiss zeitweilig Zuhörer im Frankfurter Auschwitz-Prozess.

Im Dezember 1964 besucht er das ehemalige Vernichtungslager. Aus diesem Besuch ist der Aufsatz »Meine Ortschaft« hervorgegangen. Er schreibt: »Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam.«

Peter Weiss, der am 18. November 1916 in Nowawes bei Berlin geboren wird, geht nach 1934 zusammen mit seinen Eltern zuerst nach London in das Exil, und emigriert danach weiter über die Tschechoslowakei und die Schweiz 1939 nach Schweden, wo er bis zu seinem Tod am 10.Mai 1982 lebt. Er wird schwedischer Staatsbürger und hat in Schweden bereits einen Namen als Graphiker, Maler, Filmemacher und Schriftsteller, als 1960 sein »Mikro-Roman« »Der Schatten des Körpers des Kutschers« in deutscher Sprache erscheint. Damit wird er in Deutschland bekannt.

Es folgen das Fragment »Das Gespräch der drei Gehenden« (1963) und die beiden autobiographischen Bücher »Abschied von den Eltern« (1961) und »Fluchtpunkt« (1962). Alle sind in der in dieser Zeit von ihm bevorzugten literarischen Konzeption geschrieben, Geschehnisse ohne Bewertung und ohne Kommentar lediglich zu beschreiben.

In den frühen sechziger Jahren gibt Weiss die bis dahin praktizierten literarischen Ansätze auf.

Der schriftstellerischen Wende entspricht eine ideologische. Der markanteste Punkt seiner politischen Entwicklung liegt Mitte der sechziger Jahre nach dem »Marat/Sade-Stück«, das ihn in kürzester Zeit zum weltberühmten Dramatiker gemacht hatte. Im Abstand von nur wenigen Monaten gibt Peter Weiss zwei öffentliche Bekenntnisse ab, die den radikalen Wechsel seiner Position dokumentieren: Es sind die »10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt« aus dem Jahre 1965 und seine Rede an der Princeton-Universität anlässlich des Treffens der »Gruppe 47« im April 1966. Darin hat er sein neues politisch-künstlerisches Credo zusammengefasst und vorgetragen. Seit dieser Zeit sieht er sich heftigen, gehässigen Angriffen ausgesetzt, die ihn bis an sein Ende begleiten werden.

Zum Keim und zur eigentlichen Triebkraft seiner Entwicklung zum politischen Künstler wird jedoch die autobiographische und geschichtliche Konfrontation mit der Judenverfolgung und -vernichtung der Jahre 1933 bis 1945. Diese autobiographisch veranlasste Identifikation mit den Opfern erweitert sich zur Identifikation mit allen Erniedrigten, Ausgebeuteten und Unterdrückten in Vergangenheit und Gegenwart.

Vor und mit diesem Hintergrund entsteht das Oratorium in elf Gesängen »Die Ermittlung«.

Das Stück wurde 1965 geschrieben. Nicht um irgendwelcher historischen Objektivität oder Gerechtigkeit willen hat Weiss es geschrieben, sondern um ein festes Fundament für eine gerechte menschlichere Zukunft zu gewinnen.

Die Stücke »Mit Trotzki im Exil« (1968/1969) und »Hölderlin« (1970/1971) markieren seine Rückwendung vom fabellosen Dokumentarstück zum Stücktyp des Marat. Mit der Arbeit am Trotzki-Stück hatte Weiss sich vorgenommen, »wieder auf die Beine (zu) kommen«. Genau das Gegenteil tritt ein. Die Aufführung in Düsseldorf wird zu einem Debakel und führt im Frühjahr 1970 zum physischen Zusammenbruch.

Es bleibt der wichtige Hinweis: Während der Aufarbeitung der mit dem Stück verbundenen Materialien nähert er sich erstmalig jenen Gegenständen und Geschichtsabläufen, die in der »Ästhetik« eine zentrale Rolle spielen: dem Thema Arbeiterklasse und Kultur, den Kulturauffassungen von Lenin, Gramsci und von Künstlern wie Eisenstein und Majakowski, der Parteiengeschichte der zwanziger und dreißiger Jahre und nicht zuletzt dem spanischen Widerstandskampf gegen den Faschisten Franco.

1971, am vorläufigen Ende der Arbeit an der »Ermittlung« und der Theaterphase, stellt sich für Weiss erneut die elementare Frage nach dem gesellschafts-politischen Sinn und Nutzen von Literatur.

Um diese zentralen Fragen geht es ihm vor allen anderen Fragen bei der Konzipierung und schließlichen Ausformulierung seines großen Romans »Die Ästhetik des Widerstands«, der in drei Bänden 1975, 1978 und 1981 erscheint.

Dieser Roman ist bis in unsere Tage eine empfehlenswerte Lektüre geblieben. Mit tausend Seiten und als Ergebnis einer fast zehnjährigen Rekonstruktions- und Imaginationsarbeit hat Peter Weiss mit der »Ästhetik des Widerstands« ein Buch vorgelegt, für das Bewertungsmaßstäbe und Einordnungskriterien geläufiger Art nicht zur Verfügung stehen. Titel, Gattungsbezeichnung, die in sich abgeschlossen erscheinende Form der einzelnen Bände, die besondere Art dieser Prosa mit ihrer Verbindung von Dokumentarischem und Fiktivem, das Verhältnis von autobiographischem Hintergrund und dem Versuch einer epochalen Synthese von Kunstgeschichte und Geschichte der Arbeiterbewegung, vor allem aber die Konstruktion einer nicht individualisierten, nicht psychologisierenden proletarischen Sozialperspektive, machten damals wie heute schnelle Urteile unmöglich.

Darin ist die Aufforderung enthalten, sich dieses Buch, sein Gesamtwerk erstmalig oder erneut als Lektüre vorzunehmen.