Entnazifizierung in Ost und West

5. September 2013

Positionen: Dr. Ulrich Rabe und Albert Lörcher

April-Mai 2012

Dr. Ulrich Rabe, geb. 1926, wurde als »Halbjude« zur Zwangsarbeit nach Frankreich deportiert. Nach Kriegsende arbeitete er in einer Kommission zur Anerkennung als Opfer des Faschismus in seiner Heimatstadt Zwenkau. Er gründete dort und im Benzinwerk Böhlen bei Leipzig die Antifa-Jugend. In Leipzig war er Mitbegründer der VVN. 1989/90 gründete er die IVVdN Mecklenburg-Vorpommerns und den Bund der Antifaschisten mit, deren Landesvorsitzender er viele Jahre war. Bis heute tritt er als Zeitzeuge vor Jugendlichen auf und publiziert.

In der Sowjetischen Besatzungszone wurde die Macht der Nazis sofort nach Kriegsende gebrochen. 390 478 Nazis wurden aus führenden Positionen in Politik, Justiz, Bildung, Wirtschaft usw. entfernt. Wir wollten ein Deutschland, das eine Wiederholung des Erlebten grundsätzlich ausschloss. Was Wunder, nach all dem, was wir bei den Nazis hinter uns hatten!

Entnazifizierung – das bedeutete: Wir mussten uns mit den Menschen auseinandersetzen, die noch voller Nazi-Ideologie waren. Für die Mehrzahl war »der Krieg leider verloren«, sie wollten »ihren Führer nicht beleidigen lassen«, »die Besatzer sollten sie in Ruhe lassen«. In den Ortschaften, wie bei uns in der Kleinstadt, gab es wenige Gutwillige, wenige Antifaschisten. Mit denen allein konnten wir kein anderes Deutschland aufbauen. Also mussten wir auch die verblendete Mehrheit einbeziehen, sie vielleicht für unsere Ziele gewinnen. Auf die, die in den Westen flohen, weil sie dort nichts zu befürchten hatten, konnten wir gerne verzichten. In der Kommission zur Entnazifizierung arbeiteten Antifaschisten, die aus unserem Ort stammten. Sie kannten die Beschuldigten, deren Familien und deren Entwicklung von Jugend an und sie wussten sehr wohl, welchen Einfluß die Nazi-Hetze auf die Menschen gehabt hatte. Oft mussten sie sich mit der eigenen Verwandtschaft auseinandersetzen. Beschuldigte wurden vor die Kommission geladen, Zeugen, die deren Verhalten während der Nazi-Zeit aus eigenem Erleben beurteilen konnten, wurden gehört. So waren gute Voraussetzungen für eine gerechte Bewertung der Beschuldigten gegeben. Ich selbst konnte drei meiner ehemaligen Lehrer durch meine Aussagen entlasten. Allerdings gab es auch bewusste Denunziationen, die zur Verhaftung und Deportierung Unschuldiger führten. Nicht alle überlebten die Lager. So etwas kam und kommt leider bei grundlegenden Umbrüchen der Gesellschaft zu allen Zeiten vor. Eine bittere historische Wahrheit. Je nach Schwere der Vergehen wurden die nicht entlasteten Beschuldigten zu unterschiedlich lang befristeten Arbeiten in der Landwirtschaft und der Produktion verpflichtet. So mancher lernte dadurch die Probleme des Wiederaufbaus unmittelbar kennen, für einige war dies wirklich die Chance für eine Neuanfang. Die Phase der Entnazifizierung wurde in der sowjetischen Besatzungszone in den frühen fünfziger Jahren beendet. Die Betroffenen konnten sich in die neue Gesellschft integrieren, sie durften nicht mehr belangt werden, solange sie dem Aufbau keinen Schaden zufügten. Mit viel Begeisterung, vielen Mühen, aber auch mit vielen Fehlern gestalteten wir die DDR. Wir meinten damals, der Nazi-Ideologie allen Boden entzogen zu haben – ein Irrtum! So müssen wir nun auch als Bundesbürger weiter gegen die braune Gefahr kämpfen.

Albert Lörcher (1913 bis 1997), Sozialdemokrat, bis zu seinem Tod unter anderem engagiert in der Lagergemeinschaft Dachau, war aktiv im Münchener Arbeiterjugendwiderstand, kam in KZ-Haft und später mit dem »Bewährungsbataillon 999« nach Afrika. Von dort in Kriegsgefangenschaft in die USA und Ende 1945 zurück nach Bayern. Dort ist er im anfangs noch von Nazigegnern geleiteten »Ministerium für Sonderaufgaben« mit der »Entnazifizierung« befasst. Im Folgenden ein Auszug aus seinen Erinnerungen.

Die Amerikaner haben uns im Ministerium die Akten übergeben. Auf der Grundlage der Fragebögen hatten sie schon eine Vorauswahl getroffen und einige schon vernommen. Es waren vor allem diejenigen, die unter den Nazis Funktionen in der kommunalen oder der staatlichen Verwaltung hatten. An diesen Unterlagen konnte man sich orientieren. Wir haben also Ermittler ausschwärmen lassen. Sie haben das soziale Umfeld erkundet, haben mit den Beschuldigten gesprochen und haben Unterlagen beigebracht. Der Betroffene wurde in vorgegebene Kategorien als »Hauptschuldiger«, »Belasteter«, »Minderbelasteter«, »Mitläufer« oder »Entlasteter« eingeteilt. Viele hatten im Verfahren gleich mehrere Entlastungszeugen vorzuweisen. Es war sehr schwer, sich durchzufinden. Diese Entlastungszeugen haben die Beisitzer und die Vorsitz¬enden der Spruchkammern sehr beeinflusst. Sie hatten ja keine juristische Grundlage, sondern richteten allein nach menschlichem Ermessen und nach moralischen Prinzipien – und teilweise nach ihrem eigenen schlechten Gewissen. Die »kleinen« Leute haben sich meistens mit allem abgefunden und die ein bisschen »Findigeren«, die gingen an die Berufungskammern. Bis dort entschieden wurde, ist viel Zeit vergangen. Im -Grunde genommen ist den Leuten, die maßgebliche Funktionen bei den Nazis innehatten, nicht allzu viel passiert. Im Laufe der Tätigkeit der Spruchkammern hat sich bei Menschen, die für die Schaffung einer neuen demokratischen Ordnung eingetreten waren, ¬tiefe Enttäuschung breit gemacht. Viele sind von ihren Funktionen zurückgetreten. Ich auch. Ich sah die große Masse der Bevölkerung, die die Entnazifizierung eigentlich abgelehnt hat. Ich habe mir immer überlegt, wie man aus dieser Misere rauskommt, wie man einen wirklichen Neuanfang für demokratische Entwicklung in der Gesellschaft schaffen könnte. Das ganze Übel der Nach-Nazizeit kam zum Ausdruck, in der vor allem der Egoismus und der Individualismus gestärkt wurden. Die wirklichen Grundvoraussetzungen für solidarisches Verhalten, für einen gemeinsamen Neuanfang und dafür, aus der Vergangenheit Lehren zu ziehen, waren einfach nicht gegeben. Die Möglichkeiten der Umsetzung in dieser Entnazifizierungseinrichtung waren zu gering, und das hat mich deprimiert. (…) Wir hatten die Nazi-Jahre unterschätzt. Die Masse der Bevölkerung war eben doch sehr eingebunden in das NS-System. Wir hatten große Illusionen, eine bessere Gesellschaft zu erreichen. Das ist uns nicht gelungen. Vielleicht waren wir auch zu ungeduldig. Man dachte in den Vorstellungen seines kurzen Lebens und wollte Erfolge sehen nach diesen zwölf Jahren der Unterdrückung. (…) Unnütz war die Entnazifizierung aber schon deshalb nicht, weil sie vielen Menschen Anlass gegeben hat, über das Geschehene nachzudenken.