Er stammte aus Weißenfels

geschrieben von Reinhard Schramm

5. September 2013

Benjamin Halevi (Ernst Levi) – Richter im Eichmann-Prozess

Mai-Juni 2011

Der Eichmann-Prozess 1961 wühlte mich auf. Ich war 17. Angesichts dieses Prozesses hatte meine Mutter als einzige Überlebende unserer Familie ihr Schweigen aufgegeben. Meine ermordete Familie schien zu den Anklägern im fernen Jerusalem zu gehören. In der Goethe-Oberschule von Ilmenau (Thüringen) gestaltete ich zusammen mit einer Mitschülerin die FDJ-Wandzeitung zum Thema Holocaust. Der Prozess bewegte uns noch stärker, als meine Mutter den Jerusalemer Richter Dr. Benjamin Halevi als ihren Schulkameraden und Freund Ernst Levi aus ihrer Jugendzeit in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) erkannte.

Als im Jahre 2000 anlässlich Hitlers Geburtstag ein Brandanschlag auf unsere Erfurter Synagoge verübt wurde, nahm ich das zum Anlass, die Herausgabe meines Buche »Ich will leben …« – Die Juden von Weißenfels (Böhlau 2001 – ISBN 3-412-12700-0) zu beschleunigen. Der Richter Im Eichmann-Prozess Dr. Benjamin Halevi und seine ehemalige jüdische Gemeinde sind nicht vergessen.

Prof. Dr. Ing. habil. Reinhard Schramm ist Vizevorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen

Als eine der ersten jüdischen Familien hatten die Levis ihre Heimatstadt Weißenfels verlassen. Dr. Hermann Levi – der Vater von Ernst Levi – war der Hausarzt und ein Freund unserer Familie gewesen.

Mit Ernst Levi besuchte meine Mutter den jüdischen Religionsunterricht bei Kantor Heß. Ernst war nicht diszipliniert, aber meine Mutter hielt ihn für den intelligentesten Jungen. Nachdem er das Weißenfelser Reformrealgymnasium mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, studierte er in Freiburg, Göttingen und Berlin Mathematik, Naturwissenschaft und Recht. Am 23. Juni 1933 promovierte er mit 23 (!) Jahren an der Juristischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute: Humboldt-Universität zu Berlin). Professor Wolff charakterisierte Ernst Levi als einen Doktoranden, »der schon während seiner Studienzeit als Jurist von besonders großen Fähigkeiten hervorgetreten ist.«

Ernst Levi verteidigte seine Dissertation mit dem Prädikat »magna cum laude«.

Louis Reiter, der 1933 nach Berlin und Frankfurt und 1935 nach Palästina ging, schrieb 1998 über Levi: »Ich hatte nur noch wenig Verbindung zu den zionistischen Jugendkreisen in Weißenfels. Ich weiß nur, dass Ernst Levi viel dazu beitrug, dass so viele Weißenfelser nach Palästina kamen. Sein Vater war schon Anfang der 30er Jahre ein sehr liberaler Jude, aber eifriger Zionist.«

Bei dem Aprilboykott 1933 hatten vor der Wohnung der Familie Levi SA-Männer die Patienten vor dem Besuch bei dem jüdischen Arzt gewarnt und dessen Wirken behindert. Dr. Levi arbeitete für alle Arbeiterkrankenkassen. Wegen seiner Fürsorge für ärmste Familien nannten ihn viele den »Arbeiterdoktor«.

Eines Nachts wurde er in das »Volkshaus« gerufen. Dr. Levi eilte sofort zu Hilfe. Als er den Patienten versorgt hatte, wurde er von zwei SA-Männern beschimpft und geschlagen. Ein Bürger half Dr. Levi, nach Hause zu gelangen. Manche Weißenfelser waren erschrocken und empört. Der 62jährige Sanitätsrat entschied sich daraufhin, seine Heimat zu verlassen.

Ernst Levi ging im Juli 1933 nach Palästina. Seine Eltern folgten ihm am Silvestertag des Jahres 1933. Levis hatten den Nationalsozialismus frühzeitig begriffen. Sie verloren ihre Heimat, retteten aber ihre Würde und ihr Leben.

Dr. Ernst Levi gab seinen Beruf auf und schloss sich einer landwirtschaftlichen Genossenschaft im Jordantal an, dem Kibbuz Daganiah. Dieser war der älteste Kibbuz des Landes. Dr. Ernst Levi – er hieß inzwischen Dr. Benjamin Halevi – schrieb über seinen weiteren Weg: »Mitte 1934, als mein Vater im Alter von 63 Jahren keine ärztliche Praxis mehr gründen konnte, setzte ich meine Berufsausbildung fort … Mein Vater starb 1939 an einer langen und schweren Herzkrankheit, die wahrscheinlich die Folge der Aufregungen war … Ich wurde 1938 von der englischen Mandatsregierung als erster jüdischer Einwanderer aus Deutschland als Amtsrichter ernannt. Mit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 wurde ich Präsident des Jerusalemer Distriktsgerichts und 1963 Mitglied des Obersten Gerichtshofes.«

Dr. Benjamin Halevi führte bedeutende Prozesse gegen nationalsozialistische Verbrecher. 1961 war er neben Mosche Landau und Itzchak Raven dritter Richter im Eichmann-Prozeß. An meine Mutter schrieb er 1989 über diesen Prozess: »Du hast recht, ich habe damals den Nazi Globke [Staatssekretär unter Adenauer – R. S.] beim Namen genannt. Ich hatte schon in einem früheren Prozess wichtige Persönlichkeiten wegen ihrer Beziehungen zu den Nazis angeprangert, und darum wollte man mich beinahe als ›voreingenommen‹ vom Eichmann-Prozess ausschließen … Meine ›Voreingenommenheit‹ begann schon in meiner Weißenfelser Kindheit«, als ich mich gegen die Schändung des Namens Rathenau engagierte.

Von 1969 bis 1981 war Dr. Halevi Abgeordneter der Knesseth, des israelischen Parlaments, zuletzt als Vizepräsident.

Seine Einstellung zu Deutschland und zur deutschen Sprache beschrieb er in seinem 80. Lebensjahr: »Ich dagegen bin seit 1933 weder an deutscher Literatur noch an Deutschland überhaupt interessiert, so viel ist zwischen uns gefallen … Ich sehe meine Hauptleistungen nicht in Schul- und Universitätsauszeichnungen, sondern in meinen Mannesjahren, auf dem Weg vom jungen Einwanderer bis zum Richter im Eichmann-Prozess und Mitglied des höchsten israelischen Gerichtshofs.«

Neben dieser nüchternen Beschreibung gibt es auch sehr herzliche und feinfühlige Briefe an seine Bekannten in der damaligen DDR. Man spürt sein Bemühen, in diesem geteilten Land niemanden ungerechtfertigt zu verletzen.

Die Weißenfelser Gedenkfeiern und die Veröffentlichungen im Jahre 1988 anlässlich der Judenpogrome von 1938 hatte Dr. Benjamin Halevi noch aufmerksam verfolgt und kommentiert: »Die 50jährigen Gedenkfeiern für die Opfer der Progrome … waren nur eine reichlich verspätete, schwache Anerkennung der Schuld der großen Majorität. Und doch war es eine späte Ehrung der Ermordeten und des verschmähten jüdischen Volkes, für die Dank gebührt.«