Faschismus als Ideologie

geschrieben von Mathias Wörsching

5. September 2013

Neue Theorien befassen sich mit dessen Bewegungsdynamik

Mai-Juni 2012

Der Autor ist Mitglied der VVN-BdA Berlin-Pankow, Historiker und Politologe. Er betreibt die Internetseite www.faschismustheorie.de

In der Bundesrepublik wird der historische deutsche Faschismus meist »Nationalsozialismus« genannt, während der heutige Faschismus »Rechtsextremismus« heißt. Wer »Faschismus« sagt, macht sich vielerorts sofort linker Gesinnung verdächtig. Doch seit einigen Jahren verändert sich dieses Bild. Langsam aber sicher etabliert sich der Faschismusbegriff wieder in der wissenschaftlichen Fachdiskussion. Es waren vor allem Gelehrte aus dem angelsächsischen Sprachraum, die seit Ende der 60-er Jahre diese Entwicklung in Gang brachten. George L. Mosse aus den USA und Zeev Sternhell aus Israel gehörten zu den ersten namhaften Forschern, die den Faschismus aus ideengeschichtlicher und ideologiekritischer Perspektive untersuchten. Seit Anfang der 90-er Jahre blüht die Faschismustheorie regelrecht. An den seither veröffentlichten Hauptwerken etwa von Stanley Payne, Robert Paxton oder Roger Griffin kommt nicht mehr vorbei, wer sich heutzutage wissenschaftlich mit Faschismus beschäftigt.

In der antifaschistischen Bewegung in Deutschland, oft auch in der VVN-BdA, werden die neuen Ansätze jedoch wenig wahrgenommen. Der Grund für diese theoretische Lücke ist vermutlich, dass die neuen Faschismustheorien völlig andere Fragestellungen als die althergebrachten marxistischen Deutungen verfolgen. Marxistische Faschismustheorie ist auf den Faschismus als Form kapitalistischer Herrschaft fixiert. Oft genug erschöpft sie sich in der Frage, welche Fraktion des Kapitals oder des Staatsapparats welches aktuelle Interesse an faschistischen Aktivitäten haben könnte. Demgegenüber konzentrieren sich die neueren Ansätze auf den Faschismus als Ideologie und politische Bewegung, ohne die Möglichkeit der Komplizenschaft zwischen Faschismus und kapitalistischen »Eliten« jemals zu leugnen. Der ideologiekritische Schwerpunkt der neuen Faschismustheorien muss viele marxistisch geprägte Antifaschisten irritieren, weil diese die faschistische Ideologie häufig als schiere Absurdität oder als reine Demagogie abtun.

Doch so richtig der Verweis auf die Komplizenschaft zwischen Kapital und Faschismus sein mag: Er erklärt noch keineswegs, wieso sich unter Umständen ganze Massen der Bevölkerung den Faschisten anschließen. Die faschistischen Bewegungen lassen sich nicht auf bloße Söldnertrupps »der Herrschenden« reduzieren, sondern sie beziehen ihre Kraft aus dem Fanatismus ihrer Anhänger. Zu interessanten Bündnispartnern für Teile der herrschenden Kreise werden sie erst, sobald sie eine gewisse Massenbasis und Kampfkraft gewonnen haben. Selbst als marginale politische Bewegung sind Faschisten fähig, ganze Bevölkerungsgruppen in Angst und Schrecken zu versetzen – so wie heute in Deutschland und vielen anderen Ländern. Die Dynamik des Faschismus als Bewegung lässt sich nur durch die Analyse seiner Ideologie verstehen.

Die neuen Faschismustheorien fassen den Faschismus vorwiegend als Radikalisierung nationalistischer oder auch religiöser Ideologien auf. Ebenso wenig wie der Faschismus selbst lassen sich Nationalismen oder Religionen lediglich als bloße Manipulation der Menschen im Interesse der Klassenherrschaft erklären. Vielmehr handelt es sich um Reflexe auf gesellschaftliche Verhältnisse, die mit Klasseninteressen zwar unlöslich verbunden, aber nicht unvermittelt aus ihnen abzuleiten sind. Die faschistische Ideologie ihrerseits stellt eine bestimmte Reaktionsweise auf historische Herausforderungen dar – kapitalistische Krisen, imperialistische Mächtekonkurrenz und Emanzipationsbewegungen der Arbeiter, der Frauen, und der kolonisierten Bevölkerungen. Die faschistische Krisenreaktion ist zutiefst vom Glauben an die Ungleichwertigkeit der Menschen und von einer militaristischen, soldatischen Form von Männlichkeit geprägt.

Die Stärke der neuen Faschismustheorien liegt in der Erklärung der Bewegungsdynamik des Faschismus und in der Fähigkeit zur Prognose: Welche Gesellschaften sind aus welchen Gründen besonders vom Hochkommen einer faschistischen Massenbewegung oder von der Errichtung einer faschistischen Herrschaft betroffen oder bedroht? Neue Faschismustheorien können der antifaschistischen Bewegung wichtige strategische Impulse geben. Sie berühren sich mit marxistischen Überlegungen zum Beispiel von Karl Radek, Clara Zetkin und Ernst Bloch aus der Zeit vor der von Stalin befohlenen Dogmatisierung der Lehre vom Faschismus als Diktatur des Finanz- bzw. Monopolkapitals. Die neuen Faschismustheorien sollten auch in der VVN-BdA stärker bekanntgemacht und diskutiert werden.