»Hitzige Debatte über Ungarn«

5. September 2013

Von Martin Schirdewan

März-April 2012

So lautete im Januar der Titel einer Pressemitteilung, die auf der deutschsprachigen Homepage des Europäischen Parlaments stand. Worüber diskutierten die Parlamentarier aus aller europäischer Herren Länder denn so hitzig? Kurz zuvor hatte der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban mit Hilfe seiner in verfassungsändernder Stärke im ungarischen Parlament vertretenen Partei Fidesz Verfassungsänderungen durchgesetzt, die die Unabhängigkeit der Justiz beschneiden, die Medienfreiheit einschränken und die Zentralbank zum politischen Instrument degradieren.

Ein paar Konservative erklärten daraufhin während der Debatte im Europäischen Parlament ihre Solidarität mit Orban, die Liberalen kritisierten ihn dezent, geltendes EU-Recht müsse beibehalten werden, der Fraktionschef der europäischen Grünen, Daniel Cohn-Bendit echauffierte sich, Ungarn führe eine stalinistische Verfassung ein, Sozis und Linke kritisierten Orban. Dieser wiederum behauptet in Bezug auf die Verfassungsänderungen, er habe endlich Schluss gemacht mit der kommunistischen Verfassung Ungarns und dem Land ein freiheitliches Grundgesetz verpasst.

Stalinismus? Orban dürfte wahrlich bar jeden Verdachts der Errichtung eines stalinistischen Systems sein. Freiheit? Auch dieser abstrakten Idee hängt ein Viktor Orban nicht an. In Ungarn vollzieht sich seit Jahren ein politischer Prozess des Aufbaus eines autoritären Staates. Der geht Hand in Hand mit dem Abbau demokratischer Rechte, der Beschneidung freiheitlich-bürgerlicher Rechtstandards, aber auch mit dem Angriff auf soziale und menschenrechtliche Normen. Fidesz und Orban wissen in dieser Zielsetzung von Anfang die rechtsextreme Partei Jobbik und deren quasi paramilitärischen Arm, die in Nazi-Uniform auftretende Ungarische Garde, an ihrer Seite. Ungarischer Revanchismus in Bezug auf den Gebiets- und Einflussverlust nach dem Ersten Weltkrieg, offener Rassismus bei der Jagd auf Sinti und Roma, Angriffe auf Andersdenkende und Anderslebende sind in Ungarn beileibe keine heimliche Seltenheit mehr und zugleich politische Triebfedern des autoritären Umbaus.

Dennoch ist Ungarn (noch) kein faschistischer Staat. Faschisten aber tragen die politischen Entscheidungen bei der forcierten Umwandlung Ungarns in einen autoritären Staat mit. Eine üble Allianz, die das Potential in sich trägt, fatales Vorbild zu werden in anderen europäischen Staaten, innerhalb und außerhalb der EU.

So pervers es erscheint, doch in der Finanz- und Wirtschaftskrise – wesentliche Ursache für den von der Finanzindustrie forcierten Angriff auf die Demokratie in Europa – liegt die Chance, das Abdriften Ungarns – und damit das Schaffen eines Präzedenzfalles der Auflösung demokratischer und menschenrechtlicher Standards in der EU – zu verhindern. Ungarn benötigt internationale Finanzmittel, um durch die Krise zu kommen. Geld gegen wohlgefällige Politik lautet das Motto. Europa – wo bist du bloß hingekommen?