Kinder des Exils

geschrieben von Irene Runge

5. September 2013

In der Westemigration Geborene haben einen Gesprächskreis
gegründet

Mai-Juni 2011

Wer dazugehört und sich interessiert, aber noch nicht dabei war, wende sich bitte per Mail an MBrumlik@aol.com Betreff: Westexil 2. Generation (DDR)

Ob im April 2011 im Café Sibylle der Stammtisch 2. Generation. Kinder des Ost- und West-Exils begründet worden ist, ob daraus ein altmodisch vertrauter Kreis entsteht, ob Biographie plus Sympathie mit Zufall oder Notwendigkeit von Dauer sind, das hängt von aller Leute Enthusiasmus ab.

Kontakt: Irene Runge i.runge@yahoo.de; Andrée Fischer Marum Fischer-Marum@gmx.de

Eine Suchmeldung war zugleich die erste Einladung. Daraufhin trafen sich im März rund 35 »Kinder«, mittlerweile zwischen 65 und über 70 Jahre alt, alle zwischen 1933 und 1945 außerhalb des Deutschen Reichs im westlichen Exil, in den verschiedenen Emigrationsländern der Eltern geboren. Es gab genug Gründe fürs Kommen und solche fürs Fernbleiben. Eine gemeinsame Reise in die eigene und die Vergangenheit der Eltern schien manchen zu schmerzhaft intim, für andere wurde sie zum Anstoß für das gewollte Nachdenken über den Verlauf der eigenen Zeitgeschichte. So freudig wie das Wiedererkennen, so kontrovers waren die Ansichten, als es darum ging, wie und ob die eigenen Lebenserinnerungen als fast unbekannter Aspekt deutscher antifaschistischer Vergangenheit gesichtet werden solle. Dank E-Mail-Kommunikation fanden sich Weitere, die das zweite Treffen im April bereicherten. Diesmal war die Stimmung gelöster, die Vorsicht geschwunden. Worum es grundsätzlich ging, hatte sich auch durch meinen Artikel auf Seite 11 der antifa-Ausgabe März/April herumgesprochen. Noch mehrere wären gern gekommen, waren aber leider verhindert, weitere sind unauffindbar, manche lehnen solche Treffen auch grundsätzlich ab.

Als Andrée Fischer-Marum (Marseille/Mexico) und ich (Manhattan) am Anfang des Jahres die Initiative ergriffen und Angehörige der »Zweiten Generation West-Exil« suchten, stand neben dem historischen Interesse auch die Neubelebung einer Gesprächstradition an, die im Jüdischen Kulturverein Berlin eingeleitet, aber niemals systematisiert worden war. Damals gab es ebenfalls großes Interesse, doch keine Fortsetzung, was jetzt nachträglich bedauert wurde. Wer kam, wusste genau, warum solche Lebensgeschichten zwischen Exil, Krieg und Nachkriegszeit, zwischen dem besiegten Faschismus, der Rückkehr und dem abgebrochenen Versuch eines sozialistischen deutschen Teilstaats auch wegen der widersprüchlichen Vielschichtigkeit von immenser zeitgeschichtlicher Relevanz sind. Bei beiden Treffen wurde deutlich, wie die politischen Väter nicht nur Rückkehrentscheidungen dominierten, und Mütter, obgleich fast immer ebenfalls politisch aktiv, eher selten als entscheidungsbestimmend wahrgenommen worden sind. Prägend und zugleich als politisch wurden rückblickend die frühen Sprach- und Kulturdifferenzen erinnert. Obgleich Eltern meist miteinander deutsch redeten, wuchsen die Kinder eher mit den Landessprachen auf. Bei einigen klingt bis heute der französische Akzent durch. Das Deutsche war, was längst ausgeblendet ist, damals vor allem die Sprache des verhassten Feindes. In der Öffentlichkeit vermieden, galt es in der Illegalität als lebensgefährdend, so dass Kinder diese »Muttersprache« oft erst nach der Rückkehr in die SBZ/DDR erlernten, was auch für so manch deutsche Sitte und Brauch gilt.

Im März sollten die Zahl der Teilnehmenden und deren Herkunft übersichtlich sein. Weil »Kinder« aus dem sowjetischen Exil seit langem eine eigene Arbeitsgruppe haben, wurde daher auf jene aus dem »West-Exil« gesetzt. Anders im April, wo ein »Stammtisch-Treffen« beide Exilkindergruppen verbinden sollte. Vielleicht waren es Kommunikationslücken, vielleicht unterschiedliche Interessenslagen – aber von den in der Sowjetunion Geborenen kam niemand. Welche Tücken die geographische Einteilung in West- und sowjetisches Exil hat, zeigte sich beispielsweise daran, dass zwei Teilnehmende zwar nach 1945 aus Schweden in die SBZ, aber in den Dreißigern in Moskau bzw. Leningrad, also im ersten Exilland der Eltern zur Welt kamen. Der Begriff »Westexil« ist heute eingebürgert, aber dennoch problematisch. Er übernimmt ohne Vorbehalt eine politisch denunzierende Kategorie der Stalinzeit, in der »Westemigration« bedeutete, den bekannten Folgen ausgesetzt zu sein. Die »Kinder« wussten davon zu berichten, und obgleich eindeutig nicht im geographischen Westen, galt damals das elterliche Exil in der Türkei, in China, Palästina oder Jugoslawien politisch als nicht minder verdächtig, wie dort geborene Nachfahren erzählten.

Naturgemäß ist die Zahl dieser längst altgewordenen »Kinder« verschwindend klein. Ihre Erinnerungen sind, wie nicht anders zu erwarten, durch Geburtsjahr und Exilländer, elterliche politische Überzeugungen und kulturelle Präferenzen, durch deren Verfolgung, Illegalität, Flucht, Widerstand, besonders in Frankreich und Spanien, durch die Rückkehr von dort oder aus Australien, Schweden, USA, Brasilien, Palästina, Mexiko, England und anderswo, durch Verdrängungen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede gekennzeichnet. Die biographische Nähe, verbunden mit Sympathie, erleichterten bei den Treffen die bemerkenswerten Gespräche, die über Stunden an einzelnen Tischen geführt wurden. Gott sei Dank kamen zum Märztreffen auch der Erziehungswissenschaftler Prof. Micha Brumlik aus Frankfurt/M. (geb. Schweiz) und der nach 1989 zum Potsdamer Historiker umgesiedelte Prof. Julius Schoeps (geb. Schweden), also Nachfahren westdeutscher Westemigranten, deren zurückgekehrte Eltern allerdings nicht wie die anderen Eltern zum sozialistisch-kommunistischen Spektrum gehörten. Für beide Professoren war die Ost-Begegnung auch deshalb spannend, weil es in ihrer West-Welt kaum Kinder mit ähnlich politisch untermauerten Rückkehr-Biographien gab und Re-Migranten aus Palästina meist anderen Motiven gefolgt waren. Anders als in der DDR trafen sich hingegen in Westdeutschland Nachfahren jüdischer KZ-Überlebender, um untereinander über sich und die »Mitgift« aus schrecklichen Traumata, nicht aber über elterliche Sozialismus-Utopien zu sprechen. Bei den aktuellen Berliner Begegnungen ging es natürlich auch um jüdische Vorfahren, aber gleichzeitig um deren kommunistische Leitbilder. Als beim zweiten Treffen die neben Micha Brumlik anwesende Direktorin des Jüdischen Museums Dr. Cilly Kugelmann mit Isaak Deutscher jene als »nichtjüdische Juden« bezeichnete, wurde sie gebeten, von »nichtreligiösen Juden« zu sprechen, um Missverständnisse auszuschließen. Sie bot übrigens an, für die zu erweiternde Ausstellung und das Archiv des Jüdischen Museums exemplarisch jüdische »Exilkinder«-Biographien filmisch zu dokumentieren, um der Nachwelt die überzeugt gelebte Ferne und eine mögliche Annäherungen an das eigene Judentum zu erhalten.

Die zwischen 1933 und 1945 außerhalb Deutschlands geborenen und in der DDR sozialisierten Emigrantenkinder erkennen einander anhand ihrer historischen Erfahrungen. Oft waren Eltern befreundet, auch verfeindet, Situationen, Namen und politische Debatten im elterlichen Alltag wurden ebenso memoriert wie frühe Begegnungen. Viele hatten als Kinder die SBZ/DDR nach langen Schiffsreisen erreicht, fast alle bedauerten das elterliche Schweigen über Familiengeschichten und die eigene Unfähigkeit, zu gegebener Zeit die notwendigen Fragen nicht gestellt zu haben. Solange der gemeinsame Feind zusammenschmiedete, solange die alte noch nicht zur neuen Heimat geworden war, blieben manche elterliche Kampffreundschaften überlebenswichtig und bezogen den Nachwuchs ein. Nicht selten bestimmte das gewesene Exil noch lange die Sicht auf die Gegenwart, doch Tod, Ehescheidungen und Beziehungsbrüche teilten schließlich, was einst fast unverbrüchlich zusammengehörte.

Jetzt versuchen Nachfahren, die gewesenen Zusammenhänge zu deuten, auch, um die eigene Vergangenheit besser zu verstehen. Was auch die DDR-Historiographie nicht erfasst hat, muss nun endlich zusammengetragen werden, unterstützten die zwei Professoren den Zweck des ersten Treffens, denn zur deutschen Vergangenheit gehören in allen Varianten und Versionen auch die Erfahrungen und Erinnerungen altgewordener »Re-Migrationskinder«. Ein entsprechendes Projekt, so das handfeste Ergebnis, wird nunmehr beim Moses Mendelssohn-Zentrum in Potsdam ausgearbeitet.

Zur nächsten Zusammenkunft werden Prof. Micha Brumlik und Prof. Julius Schoeps alle einladen, die sich als »Zeitzeugen« gemeldet haben, um mit den Teilnehmenden das Projekt »Zweite Generation West-Exil« (DDR) und den Ablauf eine professionelle, eventuell anonymisierte, wissenschaftlich fundierte Erfassung dieser Lebensgeschichten im Rahmen der Oral History zu besprechen. Diese autobiographischen Interviews könnten im Juni beginnen.

Kinder des Exils

geschrieben von Andrée Fischer-Mahrum

5. September 2013

Sie erzählen von ihrer Heimkehr ins Land der Täter

Mai-Juni 2007

Jüdisches Museum Berlin – der große Konzertsaal ist voller neugieriger, interessierter Zuhörer. Sie sind gekommen, um an der Diskussion zum Abschluss der Ausstellung »Heimat und Exil. Emigration der deutschen Juden nach 1933« (veranstaltet vom Bonner Haus der Geschichte gemeinsam mit dem Jüdischen Museum Berlin), teilzunehmen. Seit September 2006 war diese Ausstellung zu sehen, sie dokumentierte den Weg jüdischer Emigranten in verschiedene Exilländer und ihr dortiges Leben. Verfolgungen in der Heimat, Fluchtvorbereitungen, Lasten der Flucht und Neuanfang in den aufnehmenden Ländern, wurden gezeigt. Das politische Leben der Emigranten blieb allerdings weitgehend ausgespart. Auch ließ die Ausstellung verschiedene Fragen offen, zum Beispiel danach, wie die Auswahl der gezeigten Exilländer zustande kam. Während das Leben der Emigranten in Frankreich, Großbritannien, den USA und China (hier vor allem Shanghai) vorgestellt wurde, war das Exil in der Sowjetunion den Ausstellungsmachern kein Kabinett wert; für das lateinamerikanische Exil wurde Argentinien gewählt, nicht jedoch Mexiko mit seiner beispiellosen Exilpolitik. Auch das politische Exil in all seinen Verschiedenheiten kam in der Ausstellung kaum vor.

Vielleicht suchten die Besucher dieser Diskussionsrunde Antworten auf diese und andere Fragen. Angekündigt war die Gesprächsrunde unter dem Titel »Zurück ins Land der Täter«, auf dem Podium allerdings saßen Kinder und eine Enkelin ehemaliger Emigranten, deren Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg zu verschiedenen Zeiten nach Deutschland zurückgekehrt waren. Michael Brumlik, Daniel Cohn-Bendit, Eva Grünstein-Neumann, Jael Kupferberg (ihre Eltern blieben in Israel, der Großvater beeinflusste sie so, dass sie nach Deutschland ging), Ronny Loewy, Irene Runge, Julius Schoeps. Sie alle kannten sich, gleich, wohin ihre Eltern aus Deutschland (bzw. Österreich) geflohen waren, ob in die USA oder nach Frankreich, in die Sowjetunion, nach Palästina/Israel, Schweden oder in die Schweiz. Die Eltern hatten sich aus den unterschiedlichsten Gründen entschlossen, zurück in das Nachkriegsdeutschland zu gehen, teils war es ihrem politischen Willen, teils dem Zufall zu verdanken, in welchem deutschen Staat sie ankamen.

Die Exilerfahrungen der Eltern prägten die Lebensweisen ihrer Nachfahren in Ost und West. Der Verlust der Geburtsheimat und der Kindersprache wurden, wenn überhaupt, mühsam kompensiert. Manche Ähnlichkeiten der Erinnerungen verblüfften. So wurde fast durchwegs über die Väter gesprochen, obgleich die Mütter nicht minder aktiv waren. In jeder der kurz gefassten Lebensgeschichten kam die Erinnerung an die Fremdheit vor, die sie als Kind in Deutschland empfunden hatten. Sie waren anders und nur mühsam fanden sie ihren Platz im gespaltenen Deutschland. Doch keiner von ihnen wählte Israel als Option, und nur Brumlik hatte dies und das Jüdische schon früh als verbindend und verbindlich erfahren.

Moderator Brumlik sprach durchgängig vom Nachkriegsdeutschland, die DDR blieb bei ihm außer Acht. Grünstein und Runge schilderten ihr anderes Leben in der DDR, wie in ihrer Erinnerung die abgeschotteten Privilegien und Überzeugungen einer kleinen Minderheit ehemals Verfolgter funktionierten, in der zwar viele jüdisch waren, dies aber angesichts ihrer großen politischen Mission nach der Heimkehr lange Zeit als nebensächlich ansahen. Als am Ende dieses zu kurzen, doch ebenso kurzweiligen wie intensiven Gespräches eine Zuhörerin enttäuscht wissen wollte, wo denn nun eigentlich in den Lebensläufen die identitätsstiftende Religion geblieben sei, wurde deutlich, dass die Identität aller auf dem Podium Sitzenden stärker durch ihr politisches Leben und ihr Jüdischsein geprägt worden war, als durch die Religion.

Während der ganzen Veranstaltung habe ich mich gefragt, ob die Eltern genau so freundlich wie ihre Kinder miteinander bei einem öffentlichen Gespräch debattiert hätten. Die Zeiten haben sich geändert. Vielleicht auch eine Hoffnung.