Klarsfelds Ohrfeige

geschrieben von Ulrich Sander

5. September 2013

»Skandal-Ausstellung« im Haus der Geschichte in Bonn

Jan.-Feb. 2008

Emil Carlebach, Widerstandskämpfer und Journalist, sagte uns immer, man müsse das Wort Skandal meiden. Denn es treffe nicht, es verharmlose. Im Synonymwörterbuch werden als Alternative zu Skandal die Schande, der Lärm und das Aufsehen angeboten. Sagen wir es so: Der Skandal ist ein schändlicher, aufsehen- und lärmerregender Vorgang, bei dem nur die Spitze des Eisbergs – auch ein völlig abgegriffenes Bild – zu sehen, aber nicht zu übersehen ist. Bei der Eröffnung der Ausstellung »Skandale in Deutschland nach 1945« im Bonner Haus der Geschichte wurden die Skandale als Phänomene der öffentlichen Kontrolle in der Demokratie verklärt, als »reinigende Gewitter«.

Ich finde, Skandale in unserer Gesellschaft sind Auswuchtungen nach oben in der Statistik des normalen Übels. Tausende Nazis waren nach 1945 im Staat wieder aufgestiegen. Aber Oberländer und Kiesinger waren nicht mehr zu übersehen – Globke, Filbinger, Lübke, Heusinger durchaus, die kommen in der Skandalausstellung nicht vor.

Ich traf Beate Klarsfeld wieder. Sie war – wie auch der Vertreter der VVN-BdA – wegen der Zeitzeugenschaft und Bereitstellung von Exponaten eingeladen worden. Nach ihr ist ein ganzer veritabler Skandal benannt: »Die Klarsfeld-Ohrfeige«. Doch skandalös war ja nicht, dass Beate dem Kanzler Kiesinger (erst NSDAP, dann CDU) öffentlich auf einem Parteitag eine runtergehauen hatte. Der Skandal bestand doch darin, dass die erste Große Koalition diesen Rundfunkchefpropagandisten der Herren Ribbentrop und Goebbels an die Spitze der Regierung stellte. Wir tauschten Erinnerungen aus. 1968 hatten wir gemeinsam bei »pläne« eine kleine dokumentarische Schallplatte mit Kiesinger-Sprüchen produziert, auf der Beate eine Begründung für ihr Verhalten abgab – das ihr ein Jahr Knast, später erlassen, eingetragen hat, auch ein Skandal! Für Beate Klarsfeld ist ihre Tat noch heute eine Handlung namens aller, »die sich der von gewissenlosen Individuen wie Kiesinger begangenen Untaten« schämen. Ex-Kanzler Helmut Kohl faselt noch immer von der Ohrfeige als einen jener »unsäglichen Vorgänge, die die ganze Intoleranz und Brutalität der aggressiven Linken deutlich machen.«

Für Kiesinger wie auch für Oberländer werden dann auch Entschuldigungen bereitgehalten – so der Denunziantenbrief aus dem Reichssicherheitshauptamt, nach dem Kiesinger im Herbst 1944 nicht mehr richtig mit antisemitischer Hingabe wirkte; er war ja nicht blöd. Oder die falsche Behauptung im Begleitbuch zur Ausstellung, für den zum Rücktritt gezwungenen Minister Oberländer habe es in Bonn einen Freispruch wegen mangelnden Tatverdachts gegeben. Was es gegeben hat: Die Rücknahme der Anklage durch den Staatsanwalt nach Theodor Oberländers Tod. Das Stigma »Mörder von Lemberg« habe er mit ins Grab genommen. Es wurde ihm erstmals 1959 von der VVN in einem in der Ausstellung gezeigten Brief an die Ludwigsburger Zentralstelle verliehen. Die Bezeichnung galt dem ehemaligen Marschierer vom Hitlerputsch an der Feldherrenhalle, dem antipolnischen und antisemitischen Ostkundespezialisten der Nazi-Abwehr, dem Kommandeur solcher Mordbrigaden wie »Nachtigall«. Und dies zurecht. Doch anders als in der DDR, wo er in Abwesenheit zu »lebenslänglich« verurteilt wurde, hat die westdeutsche Justiz die ebenfalls von alten Nazi-Experten im Bundestag durchgesetzte Formel angewendet, wonach ein Kapitalverbrechen nur dann vorliegt, wenn der Täter nachweisbar unmittelbar handelte. War er Teil der Bande, dann blieb er unbestraft; der §129a für terroristische Vereinigungen wurde auf Naziterroristen nicht angewendet.

Skandale in Deutschland nach 1945

12. Dezember 2007 bis 24. März 2008

Wechselausstellung im Haus der Geschichte in Bonn.

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 9.00 bis 19.00 Uhr, Eintritt frei.

Dennoch ist die Ausstellung faktenreich und sehenswert. Was im Begleitbuch von Historikern im milden Ton z.B. über Philipp Jenninger bemerkt wird – dieser Skandal sei »heute nicht mehr nachvollziehbar« (S. 147) – das wird in der Ausstellung eindeutig klar. Übrigens Jenninger: Der ehemalige Bundestagspräsident hatte zum 9. November 1988 im Bundestag über die deutschen Juden des Jahres 1938 gesagt: »Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken verwiesen zu werden?«

Ein Skandal? Nein. Eine Schande.