Klischees überwinden

geschrieben von Irene Runge

5. September 2013

Jüdisch-islamische Gesellschaft Deutschland e. V. gegründet

Mai-Juni 2008

Was in anderen Ländern Europas und in den USA selbstverständlich ist, wurde am 11. März dieses Jahres in Nürnberg der Öffentlichkeit präsentiert eine noch kleine, aber schon zielgerichtet arbeitende jüdisch-islamische Gesellschaft e. V. Den Vorstand bilden paritätisch zwei Muslime und zwei Juden. Der Anfang ist also gemacht. Keine drei Wochen später folgten sie der Einladung des Jüdischen Kulturvereins Berlin e. V., um sich in der Hauptstadt in einem öffentlichen Gespräch vorzustellen.

Talip Iyi, der 2. muslimische Vorsitzende (er vertrat den krankheitshalber verhinderten 1. Vorsitzenden Cemalettin Özdemir) und Ali Koc als Sprecher, illustrierten im Powerpoint-Verfahren eindringlich die lange Vorgeschichte dieser Gründung. Ihre Nürnberger Begegnungsstube Medina e. V. hat bereits seit 20 Jahren Erfahrung mit christlich-muslimischem und zunehmend auch mit jüdisch-christlich-muslimischen Dialogen. Die Gründung eines jüdisch-islamischen Vereins war der Traum des abwesenden 1. Vorsitzenden. Wie vor Jahrzehnten das Fehlen von Dialogen mit und über die Frau im Islam, über Nächstenliebe, Islamunterricht, Palästina und Israel, mangelte es ihm an alltäglichen jüdisch-muslimischen Kontakten, aufgebaut auf den Symposien zu den Weltreligionen, mit kritischem Dialog, Moschee- und Kirchenführungen, einer orientalisch-jüdischen Musikgruppe, dem Pilgerweg der Religionen durch Nürnberg, Theaterspielen, Workshops, Hilfen für Streikende, Fastenessen in Altersheimen und mit Obdachlosen und den beliebten muslimisch-jüdisch-christlichen Abrahamskonzerten in der Kirche, alles längst im Repertoire von Medina verankert. In feinem Fränkisch (von Berlinern als Bayerisch verkannt) berichteten sie über weitergehende Pläne. Die natürlich auch türkisch sprechenden Aktivisten beeindruckten mit dem vielfältigen Reichtum aus Ideen, Ereignissen und Kontakten.

Nicht weniger motiviert, doch durch sehr andere Lebensgeschichten angeregt, beschrieben anschließend die jüdischen Vorstände Rabbiner Jeremy Milgrom, geboren in den USA, aufgewachsen in Israel, heute teilweise in Berlin lebend, und Lawrence (Larry) Zweig, der einst als Zionist von Brooklyn nach Israel in einen Kibbuz ging und seit zwei Jahrzehnten in Fürth beheimatet ist, ihr Engagement für den neuen Verein. Larry Zweig erinnerte an seine schmerzliche Grunderfahrung: Vor 22 Jahren gab es in Fürth faktisch keine jüdischen Nachbarn, dafür mahnten ihn befreundete Muslime, seine jüdisch-religiösen Wurzeln zu erhalten. Sein Patenkind seit dem Balkan-Krieg ist eine junge Muslima aus Bosnien, seit langem ist er auch in deutsch-palästinensischen Nahost-Friedensinitiativen aktiv. Den beiden jüdischen Vorständen fehlten nach ihrem Leben in Israel die alltäglichen Kontakte zu Muslimen, das zeige sich, so Rabbiner Milgrom auch darin, dass für Nichtmuslime hierzulande der Monat Ramadan kaum wahrnehmbar ist.

Unwissen schafft Unsicherheit, aber Dialog, Kommunikation und Austausch verbinden. Der Rabbiner lieferte mit seiner Interpretation eines jüdischen Segensspruchs den beispielhaften Beleg für gottgewollte Ähnlichkeiten der Religionen, Talip Iyi betonte, dass vor allem seit dem 11. September 2001 und als Projektion der Lage im Nahen Osten oft der Eindruck geschürt werde, zwischen Muslimen und Juden herrsche unüberwindbare Feindschaft. Gefährliche Klischees wie dieses abzubauen, dass sei ein Zweck des neuen Vereins.

Die nachfolgend intensive Diskussion war nicht weniger interessant. Eine begeisterte Frau aus Boston (USA) erzählte von den Aktivitäten in ihrer Synagoge. Dort und andernorts stünde nicht der religiöse Vergleich an erster Stelle, sondern die soziale Frage: Juden, Christen, Muslime, Buddhisten, Schwarze und Hispanos erkämpften über zwei Jahre angeführt von Rabbinern, Pfarrern und Imanen einen allgemeinen Gesundheitsschutz, bisher einzig für die USA. In diesem Jahr geht es der interreligösen Bostoner Gemeinschaft um das Altern in Würde und zwar für alle. Man müsse sich weltweit vernetzen, sie werde die deutsche Neugründung in den USA publik machen.

Während muslimische Verbände dem neuen Verein zur Gründung gratuliert hatten, verharrte das jüdische Establishment in Schweigen, doch jüdische Kulturvereine, wie unserer in Berlin, begrüßten den beherzten Nürnberger Schritt mit solidarischer Begeisterung. Als sich die JIG im März gründete, war die Islamkonferenz noch in aller Munde. Der Nürnberger Erfolg hingegen blieb unbeachtet, die gute Nachricht war den Medien keine Meldung wert. Ich denke, die Wirklichkeit ist in Deutschland erheblich weiter als es beispielsweise auch die staatliche Förderpolitik zu ahnen scheint. Beim Berliner Treffen stellte sich auch heraus, dass gegenwärtig an einer Brüsseler Studie über jüdisch-islamische Kontakte in Europa gearbeitet wird. Deutschland kam dabei bisher nicht vor. Jetzt aber wird es dank dieser Neugründung in den Bericht aufgenommen werden. Die Mitgliedschaft in der Gesellschaft steht übrigens allen Interessenten offen. Unter www.jigd.de ist mehr zu erfahren. Schon absehbar sind Veranstaltungen, Gespräche sowie Tora- und Koranlesungen in ganz Deutschland.