Mit Geschichte leben

geschrieben von Wolfgang Gehrcke

5. September 2013

Jan.-Feb. 2007

Oktober 2006: Erstmals in seiner Geschichte befasst sich der Deutsche Bundestag mit den Freiwilligen, die auf Seiten der Republik im Spanischen Bürgerkrieg die Demokratie gegen den Faschismus verteidigt haben. Die Fraktion DIE LINKE. hat beantragt, ihr Engagement zu würdigen und sie nennt in ihrem Antrag Namen – die Namen aller Abgeordneten des Reichstages und jener, die später im Bundestag saßen, die in Spanien in den Internationalen Brigaden kämpften. Die Linke gibt den Demokraten, die oftmals namenlos blieben, Namen zurück.

Wolfgang Gehrcke ist außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

Der Antrag der Linksfraktion im Bundestag zur Würdigung der deutschen Kämpfer für die Spanische Republik 1936-1939 war ein Tabubruch, verschwieg doch die offizielle Geschichtsschreibung der Republik West das Thema weitgehend. Angehörige der faschistischen Legion Condor genossen dagegen ungebrochen Renten und Anerkennung. Noch immer gibt es in Berlin die „Spanische Allee“, benannt nach der „siegreichen Heimkehr“ der deutschen Truppen. Die Geschichtsschreibung West war immer auf dem rechten Auge blind.

Der Geschichtsschreibung des „neuen Deutschlands“ droht nach der Vereinigung das gleiche Schicksal. Aber Demokratie in der Gegenwart braucht Wurzeln in der Geschichte. Oder konkret: Der Rechtsextremismus, die Lauheit der Mitte haben geschichtliche Vorläufer. Ein Hauch Weimar liegt noch immer in der Luft. Geschichtliche Verortung kann auch für die Linke kein Beiwerk sein, sondern ist Teil der Standortbestimmung für das Heutige.

Aus der Geschichte muss man lernen können; nicht nur Individuen, sondern Gesellschaften müssen lernen können. Dies Lernen erfordert immer Selbstkritik, „schonungslose Selbstkritik“, wie sie Rosa Luxemburg einforderte. Gerade wenn schonungslose Selbstkritik Richtschnur eigenen Handelns würde, wenn die Linke das einlöst, was Rosa Luxemburg vorschlug, müssen Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit und Nachsicht dazukommen. Diese sind bisher nicht unmittelbar in linken Traditionen verankert, genauso wenig wie die Fähigkeit zu schonungsloser Selbstkritik.

Barmherzigkeit deshalb, weil politische Entscheidungen immer in Raum und Zeit, in geschichtlich konkreten Situationen getroffen werden. Die „Nachgeborenen“ können Entscheidungen abwägen, die Faktoren, welche zu ihnen geführt haben, bewerten, sie prinzipiell verwerfen oder bejahen. Aber keine und keiner möge urteilen, wie sie oder er sich in der konkreten Situation verhalten hätte. Was bleibt, ist Dankbarkeit, dass man selbst in unbarmherzigen Verhältnissen nicht lebte oder sich entscheiden musste. Oftmals werden Menschen, sozialistische Vorkämpferinnen und Vorkämpfer postum als unerschrocken gewürdigt. Das mag so gewesen sein. Für mich würde ich lieber eine Einordnung als „erschrocken“ wählen. Dankbar dafür, dass vieles an meiner Generation und an mir vorüber gegangen ist, was andere bewältigen mussten. Deswegen: Seid barmherzig, wenn ihr über Personen urteilt, aber entschlossen im Urteil über die Dinge.

Wer möchte nicht eine Vorkämpferin oder ein Vorkämpfer für Wahrhaftigkeit sein, der Vergangenheit gegenüber und in der Gegenwart? Wahrhaftigkeit ist eine seltene Tugend geworden in Zeiten, in denen Verlogenheit geradezu ein Markenzeichen der Politik geworden ist. Im Großen wie im Kleinen. Schon die Sprache ist verlogen, ein Mittel der Verschleierung und nicht der Wahrhaftigkeit. Kriegseinsätze heißen heute Friedensmissionen, Sozialabbau wird mit Flexibilisierung umschrieben und Globalisierung lautet das Zauberwort, mit dem jede Schurkerei erklärt wird. Wer sich an Wahlversprechen hält oder diese glaubt, den hält SPD-Minister Müntefering für dumm.

Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit müssen für die Linke Geschwister sein. Ohne Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit wird auch linke Politik hohl und beliebig. Doch Vorsicht: Auch unsere Geschichte ist voll von peinlichen Umschreibungen, Verdrehungen und Lügen. Umschreibungen, nicht weil sich Erkenntnisse erweitert haben, sondern weil Macht sich verlagert hat. Erinnern wir uns an retuschierte Fotos und nicht zu nennende Namen. Auch Linke haben Revolutionäre zur Vergessenheit verurteilt. Stefan Heym beschreibt dies im „König David Bericht“. Das Urteil des Königs Salomo über den von ihm bestellten Geschichtsschreiber lautet, künftig nicht mehr genannt zu werden. Auch in der Geschichte der kommunistischen und sozialistischen Bewegung kennen wir solche Unpersonen. Über Zeiten nur, doch schlimm genug. Wahrheit, die scheibchenweise von oben zugeteilt wird, ist Unwahrheit. Erkenntnis ist immer ein Prozess der Näherung, des Relativen. Geschichte bleibt ein Prozess zwischen dem Tatsächlichen, dem Möglichen und dem konkreten Zufall. Geschichte bleibt ein Widerspruch zwischen der Absicht der handelnden Personen und den Auswirkungen ihrer Handlungen in der Gesellschaft.

Nachsicht forderte Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ ein für diejenigen, die die Welt freundlich machen wollten und glaubten, selbst nicht freundlich sein zu können. „Gedenkt unser mit Nachsicht!“ mahnte er. Mit Nachsicht zu denken und zu gedenken heißt, umsichtig im Urteil zu werden.

Die Linke braucht in diesem Sinne einen über den Tag hinausgehenden geschichtlichen Standort. Ohne ihn wird sie ein Rohr im Winde sein. Sie braucht politische Alternativen, Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit im Handeln, rationale Analysen und Emotionen, Kultur und Kunst.