Mord als „Rassenhygiene“

geschrieben von Annika Sembritzki

5. September 2013

Burg Grafeneck – Gedenkort für Euthanasieverbrechen

Juli-Aug. 2007

www.gedenkstaette-grafeneck.de

Im Mai war die Wanderausstellung „Grafeneck 1940 – Krankenmord im Nationalsozialismus“ in der Vertretung des Landes Baden-Württemberg in Berlin zu sehen.

Anlässlich der Eröffnung wurde der neue Gedenkstättenband der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg über alle Gedenkstätten in Baden-Württemberg vorgestellt

Abgeschieden auf einer Anhöhe der Schwäbischen Alb liegt, so idyllisch wie versteckt, das Schloss Grafeneck. Vor dem Beginn des Krieges und nach dessen Ende wurde es (und wird auch heute wieder) von der evangelischen Samariterstiftung als Behinderteneinrichtung genutzt. Erst seit 1990 erinnert eine Gedenkstätte an 10.654 Menschen, die hier 1940 der „Aktion T4“ zum Opfer fielen. Grafeneck ist der Ausgangsort für die systematische industrielle Massenvernichtung von Menschen; hier wurden viele der Täter geschult, die ihre „Karriere“ später in den Vernichtungslagern des Ostens fortsetzten, und hier wurde erstmals die Effektivität des Mordens in der Gaskammer erprobt.

Seit 1929 war das Schloß Grafeneck als Einrichtung für Menschen mit Behinderung genutzt worden, 1939 wurde es vom Stuttgarter Innenministerium für „Zwecke des Reichs“ beschlagnahmt. Für die Kaschierung der geplanten Verbrechen waren Ort und Zeitpunkt sorgfältig ausgewählt worden: im Kontext des beginnenden Krieges sollten die groß angelegten Tötungen von Kranken verschleiert und bagatellisiert werden.

Im Rahmen der sogenannten „rassenhygienischen“ Propaganda waren Berechnungen darüber angestellt worden, wieviel Geld jeder „Erbkranke“ das Reich kostete, das doch all seine Ressourcen für den Krieg benötigte und sich außerstande sah, für „Arbeitsunfähige“ aufzukommen. Die Einordnung in die Kategorie „unwertes Leben“ erfolgte auf Grund von körperlicher Behinderung über geistige bis hin zu diffuseren Kategorien wie „Schwachsinn“ und Schizophrenie, die auch soziales und politisches Verhalten pathologisierten. Was als „Säuberung des Volkskörpers“ bezeichnet wurde und in Morden gipfelte, hatte seine Vorläufe bereits in Zwangsterilisationen von behinderten und von als „asozial“ eingestuften Menschen, wie den Sinti und Roma, gehabt.

Für die „Euthanasie-Aktion“ wurde kein spezielles Gesetz erlassen. Es gab lediglich einen Auftrag Hitlers, ganze fünf Zeilen lang, auf den 1.September 1939 datiert, in der dieser seine Zustimmung „für die Gewährung des Gnadentodes unheilbar Kranker“ gab und die Befugnisse von Ärzten dahingehend erweiterte, es ihrem Ermessen zu überlassen, wer als „unheilbar krank“ einzustufen sei.

Im August 1939 waren alle Behinderteneinrichtungen des Reichs aufgefordert worden, ihre Insassen, vorrangig solche, die länger als fünf Jahre dort waren, zu melden. Außer den Wilhelmsdorfer Anstalten aus dem Kreis Ravensbrück gaben alle widerstandslos die Patientendaten preis. Aus dem heutigen Baden-Württemberg wurden aus 40 verschiedenen Behinderten- und psychiatrischen Einrichtungen Menschen in grauen Bussen nach Grafeneck gebracht und in der eigens errichteten Tötungsanlage, die über eine Gaskammer und ein Krematorium verfügte, mit CO-Gas der IG Farben ermordet.

Rund einhundert Menschen waren in den Räumlichkeiten des Schlosses untergebracht, die die Tötungen überwachten, organisierten und verwalteten. Sie waren größtenteils in Berlin geworben worden; 25% von ihnen setzten ihre Arbeit später in den Vernichtungslagern fort. Grafeneck verfügte über eine „Trostbrief“ – Abteilung, die falsche Todesursachen bescheinigte und den Angehörigen mitteilte, ferner über ein eigenes Standesamt, das die Sterbeurkunden ausstellte, und über eine Abteilung, die für die Beurkundung und Verfälschung des Todesortes zuständig war und Aktentausch mit anderen Anstalten betrieb; die Verantwortlichen gingen dazu über anstelle ihrer richtigen Namen Pseudonyme zu verwenden.

Nach einem knappen Jahr wurde die „Euthanasie“-Aktion in Grafeneck für beendet erklärt, weniger durch äußere Vorgänge, die die Geheimhaltung beeinträchtigt hätten, als vielmehr, da sie als weitgehend abgeschlossen betrachtet wurde: Grafeneck war – zynisch- reichsweiter Spitzenreiter im „Gnadentöten“. Im weiteren Kriegsverlauf wurde Grafeneck für die Kinderlandverschickung und als Kinderheim genutzt, bis 1946 der Betrieb als Wohn- und Arbeitseinrichtung für Menschen mit Behinderung wieder aufgenommen wurde.

In Baden-Württemberg wird seit 1990 offiziell der Opfer der „Aktion T4“ gedacht und der Verbrechen gemahnt; neben dem regulären Betrieb existiert unter der Leitung von Thomas Stöckle die Gedenkstätte und das Dokumentationszentrum Grafeneck e.V. auf dem Schlossgelände.

In Berlin hingegen, in der Tiergartenstraße 4, (nach der die sogenannte „Euthanasie“ als „Aktion T4“ bezeichnet wurde),von wo aus die Ermordung von insgesamt etwa. 200 000 Menschen veranlasst wurde, davon den 10 600 Menschen in Grafeneck, liegt heute eine Erinnerungstafel verloren auf dem Busplatz hinter der Philharmonie. Sie wirkt nicht wie ein Mahnmal, eher wie Kunst am Bau. Die geforderte „Ehre den vergessenen Opfern“ wird diesen hier nicht wirklich zuteil, vielmehr verdoppelt sich das Vergessen: Vergessene Opfer an einem vergessenen Gedenkort.