Nacharbeit vonnöten

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Drucksache 17/8134: Viele Fragen nach Lektüre der »gigantischen
Beichte«

März-April 2012

25 Minister, ein Bundespräsident und ein Bundeskanzler der BRD waren Mitglieder der faschistischen NSDAP.

»Dass angesichts der Millionen Opfer der nationalsozialistischen Politik die Mehrzahl der Täter in der Bundesrepublik beinahe ungeschoren davonkommen sollte, war ein allen Vorstellung von Moral so grundlegend widersprechender Vorgang, dass dies unmöglich ohne schwerwiegende Folgen für die Gesellschaft bleiben konnte.« (Ulrich Herbert, Freiburger Historiker)

»Das Unternehmen bewegte sich (…) ›im Mainstream dessen, was Unternehmen im NS-Staat getan haben‹. Anders ausgedrückt: Das Bielefelder Unternehmen passte sich an und versuchte ohne Berührungsängste, die Chancen zu nutzen, die sich aus der politischen Situation ergaben.« ( »Der Standard«, Wien, zur Ankündigung des Oetker-Konzerns, seine Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten zu lassen)

»(…) lässt sich feststellen, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft die generell am besten erforschte Periode des 20. Jahrhunderts ist.« So einleitend zu lesen in der »Vorbemerkung« der Antwort der Bundesregierung auf die »Große Anfrage« der Fraktion Die Linke im Bundestag zum Thema »Umgang mit der NS-Vergangenheit« (Bundestagsdrucksache 17/8134). Zum Beleg wird darauf verwiesen, dass in der »Bibliographie zum Nationalsozialismus« von Michael Ruck in letzter Auflage über 37.000 Titel verzeichnet sind. Für die Zeit von 2000 bis 2010 werden im Jahresbericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften knapp 26.000 deutsche Titel zum Thema ausgewiesen.

Das ist eine beachtliche Bilanz, mit der die Bundesregierung in der immerhin 85 Seiten umfassenden Antwort aufwartet. Bei allem Respekt jedoch vor denjenigen die diese braune Drecksarbeit zu machen hatten, sollte eins nicht vergessen werden: Nicht wenige derjenigen, die sich in den weiter zurückliegenden Jahren (ohne Segen der Regierung) an das von der Linksfraktion angefragte Thema gemacht haben, sind auf erhebliche Hürden gestossen. Da waren verschwundene Akten, verweigertes Quellenstudium. Als »Verleumder« und Nestbeschmutzer« wurden sie staatlich ins Abseits, wenn nicht gar als »Handlanger des Ostens« hingestellt. Nicht wenige wurden in Prozessen vor politischen Sonderstrafkammern wegen »Verächtlichmachung« und »unerträglicher Beschimpfung« der Bundesregierung strafrechtlich verfolgt. Wollte die Bundesregierung nicht 1959 u. a. mit dieser Begründung die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) verbieten lassen?

Die jetzt vorliegende Antwort auf die »Große Anfrage« könnte für die Bundesregierung Anlass sein, sich bei all denen zu entschuldigen, die nicht erst jetzt, da die Bundesrepublik von der »Generation der Täter biologisch weitgehend erlöst« ist und die »Vertuscher (…) meist selbst schon im Pensionsalter« sind (Der Spiegel) auf den Spuren der Täter geblieben sind.

Das Dokument ist in dieser Form in der Tat ein, wie Jan Korte anmerkt, der gemeinsam mit anderen Abgeordneten der Linksfraktion zu den Fragestellern gehörte, »erstmals ein umfassender offizieller Überblick über Umfang und Intensität der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Staatsapparat der frühen Bundesrepublik«. Zuzustimmen ist ihm auch dabei, »dass dieses Papier einen guten Einstieg ins Thema erlaubt und für die weitere wissenschaftliche, historische und politische Auseinandersetzung genug Stoff bietet«.

Stoff vor allem bei der Analyse der Hintergründe der fast bedenkenlosen Weiterbeschäftigung oder die nach einer Schamfrist erfolgte Wiederindienststellung bald schon rehabilitierter Täter aus allen staatstragenden Institutionen des faschistischen Regimes in den Dienst der »freiheitlich-demokratischen Grundordnung«. »Die gigantische Beichte« (Der Spiegel) bedarf vor allem der Nacharbeit im Hinblick auf den nicht kleinen Kreis der »Unverzichtbaren« beim Ausbau der BRD als »Bollwerk gegen den Osten«. Die da Weiter- oder Wiederverwendeten – ob bei der Justiz, den Geheimdiensten, der Polizei, der Wehrmacht, den Auswärtigen Amt – hatten ja alle einschlägige Erfahrungen im modifiziert übernommenen Antikommunismus, der bald wieder Staatsdoktrin war. Einige Institutionen haben – wie das Außenministerium – mit der »Aufarbeitung« begonnen. Das Bundesjustizministerium ließ verlauten, dass durch eine »unabhängige Kommission«« nach Vorliegen neuester Forschungsergebnisse und dem Auslaufen von Aktensperrfristen nun entdeckte »Forschungslücken« geschlossen werden könnten. Der Fall des Ministerialdirektors im Bundesjustizministerium Josef Schafheutle böte sich als eine Fallstudie an. Im NS-Justizministerium war er maßgeblich an der Ausarbeitung der Sondergerichtsbarkeit beteiligt, deren Aufgabe darin bestand, »die Gegner des 3. Reiches, hauptsächlich Kommunisten und Sozialdemokraten vollständig auszurotten«. Bei der Ausarbeitung des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. August 1951, Auftakt der neuzeitlichen Kommunistenhatz, konnte er seine auf Erfahrungen und Textbausteine der faschistischen Gesetzgebung zurückgreifen.