Neofaschismus in Belgien

geschrieben von Übersetzung aus dem Französischen: Doris Pumphrey

5. September 2013

Von Manuel Abramowicz

Sept.-Okt. 2006

Der Autor ist Koordinator der RésistanceS und Autor des „Guide des résistances à l’extrême droite“ (éditions Labor, Bruxelles 2005).

Der Beitrag ist ein gekürzter und zum Teil zusammengefasster Redebeitrag, den der Autor auf der internationalen Konferenz „60 + 1 Jahre Antifaschismus“ gehalten haben. Die Konferenz fand Mitte Mai 2006 im Europäischen Parlament in Brüssel statt. Ein Konferenzband mit allen Beiträgen ist in Vorbereitung.

Eine der gefährlichsten rechtsextremen Parteien agiert in Belgien, im Herzen Europas. In Flandern repräsentiert sie mehr als 24 Prozent der Wählerschaft. In Brüssel und Wallonien wird sie bei Wahlen immer stärker, obwohl sie dort nur in kleinen Gruppen organisiert ist. Die Antifaschisten sind mobilisiert und vor Ort aktiv.

Seit fast 20 Jahren ist der Vlaams Blok (VB, Flämischer Block) – heute umbenannt in Vlaams Belang (VB, Flämische Interessen) – als perfekte Inkarnation der zeitgenössischen Rechtsextremen voll in das politische Leben unseres Landes integriert. Sein Einfluss wächst bei jeder Wahl. Mit gegenwärtig 24 Prozent ist er die zweitgrößte Partei in der flämischen Region und die größte in der Stadt Antwerpen.

Der VB geht zurück auf ein 1978 gegründetes Wahlbündnis der extremsten flämischen Nationalisten, zum großen Teil Dissidenten der Volksunie (Volksunion), der historischen Partei der „flämischen Bewegung“. Die Stärke der VB beruht also zuallererst auf ihrer Verankerung in einer bedeutenden identitätsstiftenden Bewegung. Als Unabhängigkeitspartei fordert sie die Auflösung des belgischen und die Gründung eines neuen Staates, Flandern. Der Gedanke des Separatismus ist auch in allen anderen politischen Formationen im Norden des Landes zu finden. Und gerade weil diese rechtsextreme Partei ein wichtiger Teil der „flämischen Bewegung“ ist, ist es so schwer, sie wirklich zu bekämpfen.

Der Erfolg der VB rührt auch aus der aktuellen Lage der demokratischen Parteien. Im Gegensatz zu den meisten europäischen Ländern wird Belgien systematisch von großen Koalitionen regiert. Es gibt kaum Unterschiede zwischen der Rechten und Linken. Die legendären Spannungen zwischen der französisch und flämisch sprechenden Bevölkerung haben enormen Einfluss auf die Bundesregierung. Der mangelnde Unterschied zwischen Rechts und Links wird durch den Nationalismus kompensiert. Die flämischen Mehrheitsparteien (die liberale VLD und die sozialdemokratische SP.A) müssen sich ständig mit den frankophonen Parteien arrangieren. Letztere werden von den radikalsten Kräften der flämischen Bewegung als das größte Hindernis für die Abspaltung Flanderns betrachtet. Von dieser Situation und der sozialen Krise profitieren auf Bundesebene die Oppositionsparteien, der VB und der CD&V (die Christlich-Sozialen, die sich mit den Ultranationalen der NVA verbünden). Der Protest gegen die Regierung wächst zugunsten der Rechtsextremen. Nach dem Muster der klassischen Rechtsextremen hierarchisch organisiert, erreicht der Vlaams Blok-Belang über Vorfrontorganisation die gesamte Gesellschaft. Seine Wählerschaft ist soziologisch sehr unterschiedlich zusammengesetzt. Mit seinem simplifizierten und opportunistischen Diskurs erreicht er die verschiedenen sozialen Schichten. In Wirklichkeit aber bleibt er sich und seinen national-faschistischen Wurzeln treu.

Auf der frankophonen Seite ist die Rechtsextreme auf organisatorischer Ebene sehr schwach. In der Brüsseler und wallonischen Region konkurriert die Front National mit anderen kleinen Gruppen (häufig Abspaltungen der FN) um die rechtsextreme Wählerschaft. Die frankophone Rechtsextreme ist gekennzeichnet durch interne Spaltung, Kleinstgruppen und die Schwierigkeit, sich einer bestimmten nationalen Identität zuzuordnen.

Bei Wahlen jedoch, wächst der Einfluss der frankophonen Rechtsextremen vor allem auf lokaler Ebene. So hat sie in den Regionalwahlen 2004 im Kanton Charleroi mehr als 18 Prozent erreicht.

Bekanntermaßen wächst die Rechtsextreme in den Zeiten der Krise und der Unsicherheit. Sie designiert die Schuldigen (Politiker und Immigranten) und bietet einfache Lösungen an. Mit ihrer starren, protektionistischen und ultrarechten Argumentation beruhigt sie auch die Bürger, die jede Solidarität mit den Opfern der sozial-ökonomischen Krise ablehnen und sich vor den Folgen der Krise für ihre eigene Sicherheit fürchten.

Auch wenn sich die rechtsextremen Parteien heute an das politische System anpassen und sich mit dem Schein der Ehrbarkeit umgeben, so bleiben sie ihrer eigentlichen Ideologie treu. Der VB und die FN in Belgien entstammen dem gleichen politischen Milieu wie die FN in Frankreich, die NPD in Deutschland, die FPÖ in Österreich oder die BNP in Großbritannien. Sie wurden von Anhängern des Dritten Reiches, von Neofaschisten und Neonazis gegründet. Ihre politischen Programme zeugen vom Weiterwirken des ideologischen Erbes. Sie beziehen sich auf das „Blutsrecht“, auf eine soziale Ordnung der Ungleichheit und ein Apartheitsystem. Ihre Anpassung an die heutigen Bedingungen ist nur taktischer Natur und ist Teil ihres Planes der Machteroberung, nach der Strategie des trojanischen Pferdes.

Die beiden flämischen Mehrheitsparteien (VLD und SP.A) scheinen in dieser Situation immer schwächer zu werden. Durch ihre fortgesetzte Teilnahme an der Bundesregierung verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit und immer mehr Wähler wenden sich enttäuscht von ihnen ab. Des weiteren schaden die vielen politischen und juristischen Skandale dem Ansehen der „klassischen“ Politik.

Seit fast 15 Jahren soll ein „cordon sanitaire“ die Rechtsextreme von der Macht fernhalten. Immer öfter jedoch fordern Politiker, diesen aufzuheben, denn sie hoffen, dass der VB durch eine Regierungsbeteiligung geschwächt und seine Wähler enttäuschen würde. Für viele ist dieses Szenario, dessen Ausgang offen ist, nur ein Vorwand. Im konservativen und nationalistischen flämischen Milieu, dem auch ein Teil der Unternehmer angehört, hofft man auf eine große flämisch-nationalistische Allianz unter Einbeziehung des VB gegen die Sozialisten, die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Man will den VB also nicht schwächen, sondern seine Wählerschaft für eine neue ultrarechte politische Kraft nutzen, die sich für die völlige Unabhängigkeit Flanderns einsetzt.

Auf der anderen Seite fordern eine Minderheit im Norden des Landes und eine Mehrheit der Frankophonen (frankophone und flämische Sozialisten und Ökologen, frankophone Liberale und Demokraten und mehrere antirassistische Organisationen) radikale Maßnahmen gegen die Wahlerfolge der Faschisten, der populistischen, rassistischen und antisozialen Rechten, wie zum Beispiel die Streichung öffentlicher Gelder für antidemokratische Parteien oder das Verbot des VB und der FN.

Juristisch ist eine solches Verbot gegenwärtig nicht möglich und die Streichung der Gelder sehr schwierig. Diese Maßnahmen wären letztendlich auch nicht erfolgreich, denn die Rechtsextremen haben schon oft ihre Fähigkeit bewiesen, Hindernisse zu umgehen.

In den 1970er und 1980er Jahren bildeten die Ortsverbände der Antifaschistischen Front (AFF) in Flandern eine Bewegung, die Tausende von Anhängern und Sympathisanten mobilisieren konnte. Auf Massendemonstrationen konfrontierte die AFF sich mit den Rechtsextremen, die zu jener Zeit in gewalttätigen, paramilitärischen Gruppen organisiert waren. Es fand tatsächlich ein Kampf um die Straße statt. Der Schwindel erregende Aufstieg des VB bei den Parlamentswahlen 1991 änderte dies. Der VB verlagerte seinen Kampf von der Straße ins Parlament. Somit änderten sich auch die Waffen im Kampf zwischen den Antifaschisten und den „neuen Faschisten“. Diese neue Situation, die allgemeine Ratlosigkeit, mit der die demokratischen Kräfte dem Aufstieg des VB begegnen, ebenso wie seine Banalisierung durch die Medien und Politik, erschweren die Möglichkeiten einer antifaschistischen Mobilisierung.

Wir Antifaschisten sind zwar weniger geworden, aber wir sind immer noch aktiv. Unsere Aktivitäten konzentrieren sich auf Sensibilisierungs- und Informationskampagnen. Wir wollen dadurch auch die Politiker erreichen, um diese im Kampf gegen den „parlamentarischen Faschismus“ zu stärken.

Mit ihren Aktiven vor Ort und im Informationsbereich, bleibt die antifaschistische Bewegung eine pluralistisch zusammengesetzte Bewegung. Regelmäßig werden Kampagnen initiiert, die von vielen Organisationen unterstützt werden. Diese richten sich nicht mehr direkt gegen die Rechtsextremen, sondern an die Wähler der anderen Parteien, um sie davon zu überzeugen, den VB, die FN etc. nicht zu wählen. Auf lokaler Ebene gibt es noch in einigen Städten aktive antifaschistische Gruppen, in anderen können sie zu Aktionen reaktiviert werden. Unter den Studenten wirkt vor allem die radikale Linke für eine Mobilisierung der Studenten für antifaschistische Aktionen.

Der Kampf der Antifaschisten ist nötiger denn je und muss vor allem politisch geführt werden. Der Antifaschismus ist kein politisches Programm, sondern muss sich darauf richten, immer mehr Menschen für die rechtsextreme Gefahr zu sensibilisieren. Der antifaschistische Kampf ist ein Kampf gegen die faschistischen Strukturen (VB, FN etc.), vor allem aber ist er ein Kampf gegen die faschistische Ideologie.

Ein endgültiger Wahlsieg über die Rechtsextremen kann nur durch eine Politik errungen werden, die die Wurzeln des Erfolgs der Rechtsextremen angreift: die soziale Ungerechtigkeit und Unsicherheit. Dazu brauchen wir den Antifaschismus. Stellen wir uns einen Augenblick vor, wo wir heute wären, wenn es keinen Antifaschismus gegeben hätte…