Neubeginn gut genutzt?

geschrieben von Dieter Lattmann, Schriftsteller, MdB (SPD) 1972 - 1980, in: Die Erben der Zeitzeugen. Wider die Vertreibung der Geschichte, Frankfurt/Main 1988

5. September 2013

Dieter Lattmann zur Weizsäcker-Rede

Mai-Juni 2010

Gäbe es nur seine Rede vor dem Bundestag und damit vor der Republik vom 8. Mai 1985, sie begründete dennoch eine eigene Überlieferung. Weizsäcker versicherte den Nachbarn in Ost und West unser Einstehen für die deutsche Geschichte. Allen noch Lebenden, die in Krieg und Gewaltherrschaft Opfer waren, bezeugte er die Unvergänglichkeit des Erinnerns. Den eigenen Landsleuten sagte er: »Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren«.

So wehrte er dem Abschied von der Vergangenheit. Die Rede ist ein meisterliches Zeugnis der Übereinstimmung eines Staatsmanns mit dem Staat und dem Lebensgefühl der Mehrheit seiner Menschen. Aber Richard von Weizsäcker ist mehrmals bis an die Grenze des Verständnisses dieser Mehrheit gegangen. Das tat er zum Beispiel, als er über den Tag vor vierzig Jahren festhielt, »was es heute für uns alle gemeinsam zu sagen gilt: Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung«. Um das für die Andersdenkenden in den eigenen Reihen erträglich zu machen, brauchte er Zugeständnisse. Gerade weil die Rede die Bundesrepublik glaubwürdiger machte, sollte nicht verdrängt werden, dass sie auch einen Teil stolzer Selbstfeier und Einseitigkeit enthielt.

»Es war Hitler, der zur Gewalt griff«, hat Weizsäcker festgestellt. Aber wenn er anfügte: »Der Ausbruch des zweiten Weltkriegs bleibt mit dem deutschen Namen verbunden«, ist auch ihm entgegenzuhalten, dass Kriege nicht ausbrechen, sondern befohlen werden, und dass an der deutschen Ursache nicht zu zweifeln ist. »Es gab keine ‚Stunde Null‘, aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn«, erklärte der Bundespräsident, und er folgerte daraus: »Wir haben sie genutzt, so gut wir konnten.« Wie gut wir es konnten oder nicht, stand für ihn kaum zur Debatte. Der Zeit davor ging er auf den Grund, nicht der Bundesrepublik: »Wir leben seit vierzig Jahren in Frieden und Freiheit, und wir haben durch unsere Politik unter den freien Völkern des Atlantischen Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft dazu selbst einen großen Teil beigetragen.« Da war die Staatsideologie.

Ging Richard von Weizsäcker, als er am Schreibtisch das Material für die Rede durchsah, nicht ein Gedanke an die unterdrückten Minderheiten in der Bundesrepublik durch den Kopf? War es für ihn keine Folge der unbewältigten Vergangenheit, dass in dem neuen westdeutschen Staat von Anfang an alte Feindbilder wiederkehrten, und dass die Mauer in den Köpfen von beiden Seiten aufgerichtet wurde? Die Kontinuität der Vergangenheit in der Nachkriegszeit überging er. Aber mehr als einer, der aus dem Widerstand kam, aus dem Konzentrationslager, fand sich nach wenigen Jahren in einem Gefängnis der Bundesrepublik wieder – weil ihm unheilvoll schien, was sich da wieder entwickelte, weil sein Widerstand gegen die Wiederaufrüstung wieder auf politische Richter stieß. Noch sind Zeitzeugen unter uns, die davon berichten können. Aber wer fragt sie? Sie blieben Außenseiter im Inneren, sahen, wie andere, die unter Hitlers Regime mitgezählt hatten und mitverdienten, wieder aufstiegen, in Wirtschaft und Politik, Militär, Justiz und Kirchen.