Nichts auslassen

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Kurt Pätzold hat die »Erinnerungen eines Historikers«
vorgelegt

Sept.-Okt. 2008

Kurt Pätzold:

Die Geschichte kennt kein Pardon. Erinnerungen eines deutschen Historikers«, Edition Ost im Verlag Das Neue Berlin, 320 S.,Euro 19,90

Eine Anmerkung vorweg zur Erklärung der ganz persönlichen Beziehung an den vorliegenden »Erinnerungen eines Historikers«: Der Rezensent und der gleichaltrige Autor begegneten einander erst im ziemlich fortgeschrittenen Alter, nach der »Wende«. Der Rezensent hat die Jahre vor diesem »Beitritt« im Wesentlichen in den »alten«, der Autor in der nun »neue Bundesländer« genannten »ehemaligen DDR« gelebt. Der Rezensent mit Rest-Kriegserfahrung war nach 1945 auf recht mühseligem Weg in die Schar jener recht bald als »staatsfern« an den Rand Gedrängten gelangt, die nach den Erfahrungen des Vergangenen den Antifaschismus – mit all dem, was er als Menschenrechtsbewegung beinhaltet – als Staatsdoktrin für zwingend hielten. Kurt Pätzold hat diese Jahre »staatsnah« als Student, Parteifunktionär, Hochschullehrer, Historiker und loyaler Staatsbürger in der SBZ, die als DDR diesen Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben hatte, gelebt. Was auch ihm nach der »Wende« (»Die DDR wurde von nun an ‚zurückgebaut‹.«) als »Vergehen« angelastet wurde und weitere Beulen am Kopf (darunter auch 1992 die Entlassung aus dem Hochschuldienst) eingebracht hat. (Nicht alle seinen Beulen sind, die Lektüre der Erinnerungen macht es deutlich, vom Klassenfeind.)

Zu Überlegungen von DDR-Historikern, eine Hitlerbiografie zu schrieben, entschied, wie bei Pätzold zu lesen, die Führung der SED in frühen Jahren dahingehend, dass eine Biografie des von den Faschisten ermordeten Vorsitzenden der KPD, Ernst Thälmann, Priorität habe. Für die »Süddeutsche Zeitung« Anlass, ihre ansonsten recht sachliche und den Rang des Historikers Pätzold durchaus anerkennende Rezension mit der zweideutigen, einer Geschichtsklitterung nahekommenden Überschrift »Ohne Thälmann kein Hitler« zu versehen. Die Totalitarismusdoktrin lässt grüßen. (H.C.)

Kurt Pätzold, »antifa«-Leser wissen es aus zahlreichen Veröffentlichungen, kann erzählen und er hat was zu erzählen. Wer als »Westler« die oft zu lesende Formel: »Wir sollten uns zum besseren Verständnis unsere Biografien erzählen« ernst nimmt, der sollte diese Erinnerungen lesen, Sie sind verwoben mit der Geschichte eines Staates, der sich auf den Weg begeben hatte, die Verhältnisse umzustülpen, in denen der Mensch nur Posten in den Kalkulationen der Mächtigen darstellt – und dabei gescheitert ist. Eingebettet aber auch in das, was der »Kalter Krieg« an Auswirkungen auf die Politik der beiden deutschen Staaten hatte, wobei der westwärts gelegene den Ostteil erklärtermaßen stets als Wechselbalg, als »heimzuholendes Territorium« betrachtet und behandelt hat – was diesen manchen, auch innenpolitisch spürbaren Stachel ausfahren ließ.

»Vollständigkeit« strebt der Autor nicht an. Im Nachwort sagt er: »Befolgt werden sollte der Grundsatz, nichts auszulassen, um von sich das Bild einer Lichtgestalt zu entwerfen«. Dieser Gefahr entgeht er durch die sehr kritische Betrachtung seiner (stets aktiven) Mitwirkung am Geschehen im Staate DDR, sei es in der Umsetzung der Politik der Regierung oder der herrschenden SED (»… Zweifel im Grundsätzlichen nagten nicht an mir«) oder auch bei den Forschungsarbeiten, bei denen die Freiheit der Wissenschaft mitunter ihre Grenzen durch engstirnige Funktionäre oder die Befindlichkeiten des »Großen Bruders« Sowjetunion fand.

Diese Erinnerungen sind ein ganz eigenes Zeitdokument, das uns mit nimmt auf den nun bald achtzigjährigen Weg des bekennenden Sozialisten, des international renommierten Faschismusforschers und Autors zahlreicher Bücher, der seine Forschungen zum Faschismus »immer auch als Warnung verstanden« hat und heute die »Auflehnung gegen die Lüge vom verordneten Antifaschismus« der DDR als »eine Frage des Anstands« bezeichnet. Dem nie träumte, »noch einmal Bürger eines Staates zu sein, der die Lobpreisung der Waffen-SS legalisiert«. Die letzten einhundert Seiten dieser Erinnerungen widmen sich dem Leben des Bürgers Pätzold in diesem Staat, in dem er nun – weite Strecken dabei auf dem Fahrrad – mehr denn je als gefragter Gesprächspartner »auf Achse« ist. Angesichts der Fülle der seitdem vorgelegten Bücher und anderen Publikationen ist man fast geneigt jenen Studenten zuzustimmen, die Pätzolds Rausschmiss fast als Segen bezeichneten. Nie hätte er sonst soviel über die Geschichte von Faschismus, Krieg und Judenmord publiziert.

An einer Stelle seiner Erinnerungen erwähnt Pätzold die Maxime eines seiner Historikerkollegen »lieber uneingeschränkt kürzer leben als eigene Lebensansprüche reduzieren«. Da er, wie zu lesen ist, seine eigenen Lebensansprüche bislang nicht reduziert hat und dies auch fürderhin nicht zu tun gedenkt, wird die Kapitelüberschrift »Das Jüngste oder das Letzte« (Buch) ganz sicher in dem Sinne beantwortet werden, dass diese Erinnerungen das »jüngste« Werk aus seiner Feder sind.