Ohne Herz ein Fremder

geschrieben von Alfred Fleischhacker

5. September 2013

Eine nicht alltägliche Liebeserklärung an »die
Russen«

Jan.-Feb. 2011

Karl-Friedrich Lindenau »Was gehen mich die Russen an? Liebeserklärung an ein unverstandenes Volk«

224 Seiten, Verlag am Park 14,90 Euro

An diesem Beitrag hat unser Autor Alfred Fleischhacker noch kurz vor seinem Tod am 16. Juni 2010 gearbeitet. Die von ihm begonnene Rezension wurde nun von seinem Sohn Michael zu Ende gebracht. Die Redaktion der antifa dankt ihm herzlich für die Vollendung des Beitrags, der unseren langjährigen und hoch geschätzten Autor noch einmal zu Wort kommen lässt.

Karl-Friedrich Lindenau ist vielen als Mediziner bekannt, der sich zeitlebens vor allem dem menschlichen Herzen und seiner existentiellen Bedeutung widmete. Nach »Rückblende« und »Ungebührliche Betrachtungen eines Mediziners«, nun das 3. Buch mit dem vielleicht für potentielle Leser nicht sofort deutbaren Titel. Sein Anliegen: Das familiäre Umfeld in dem er aufwuchs und seine Liebe zu »den Russen«, seinen Lesern nahe zu bringen.

1941 auf die Welt gekommen, war er mithin vier Jahre als seine Heimatstadt Schönewalde in der Dübener Heide nahe Torgau von der Roten Armee befreit wurde. Sein Geburtsort im südlichen Brandenburg wurde für ein paar Wochen Lazarettstadt und möglicherweise erhielt KF bereits zu dieser Zeit entscheidende Impulse für seinen Lebensweg. Einige Tage vor dem Eintreffen der Roten Armee begleitete der im Hause Lindenau beschäftige russische Fremdarbeiter »Wassel« die ältere Schwester von Karl-Friedrich auf ihrem nicht ungefährlichen Weg in ein Nachbarort wo sie ein geliehenes Fahrrad zurückgeben wollte. Glücklicherweise kamen beide unbeschadet wieder nach Hause. Diese Episode einerseits und die Tatsache, dass sein Vater den Mut besaß, am 21. April 1945 mit einer weißen Fahne den russischen Panzern entgegen zu gehen, um die Stadt der Armee zu übergeben, haben ihn geprägt. Der heranwachsende Karl-Friedrich hatte schon sehr früh das Bedürfnis zu studieren. Das Elternhaus war in dieser Hinsicht nicht »vorbelastet«, der Vater war von Beruf Schuster und hatte mit den Nazis nichts am Hut. Als Karl Friedrich für ein Medizinstudium in Leningrad nominiert wurde, wurden damit Weichen gestellt. Für einige Jahre konnte er zusammen mit Kommilitonen aus drei Kontinenten im »Venedig des Nordens« ein Land kennenlernen, das ihn nachhaltig prägte. Er gehörte zu den jungen DDR-Bürgern, die das Privileg genossen, auf diese Weise ihren Berufswunsch zu verwirklichen. Das gab ihm auch die Kraft, relativ schnell die russische Sprache zu erlernen. Während ihres Studiums werden die Studenten aus der DDR auch mit Erscheinungen im Land der Oktoberrevolution konfrontiert, über die in der Heimat nicht gesprochen, geschweige denn geschrieben wurde. Einer Mangelwirtschaft, die es mit sich brachte, dass frisches Obst und Gemüse nur als »Bückware« verkauft wurde, einer gescheiterten Nationalitätenpolitik die zu Vorurteilen und Zwietracht zwischen den Völkern der Sowjetunion führte und nicht zuletzt einem mal latenten mal offen auftretendem Antisemitismus. Nichtsdestotrotz überwog im Wohnheim der Medizinischen Hochschule, in dem Studenten aus mehr als 20 Ländern Europas, Afrikas und Asiens unter einem Dach lebten, ein Geist der Gemeinschaft, der Toleranz und der Sympathie füreinander. Diese Erfahrungen, vor allem aber die Freundschaft zu Jura, einem russischen Kommilitonen und die Aufnahme von Karl-Friedrich in dessen Familie waren von entscheidender Bedeutung für seine bis heute anhaltende Liebe zu diesem Land. Diese sehr persönliche Beziehung zu seinen Gasteltern, die für ihn zur zweiten Familie wurde, ließen ihn viele Dinge aus einer anderen, weiteren Perspektive sehen. In vielen Gesprächen mit Jura und seinen Eltern (der Vater war Major a.D. der Grenztruppen) bekam der Autor eine andere Sicht auf seine, im Vergleich mit dem riesigen Gastland, winzige Heimat, einen anderen Umgang mit dem Tod und nicht zuletzt einen tiefgehenden Zugang zu den zahlreichen Werken russischer Maler, Schriftsteller und Musiker die integraler Bestandteil unseres klassischen Welterbes sind. Der Kontakt zu diesen Menschen war es auch, der Karl-Friedrich zu der Erkenntnis kommen ließ, dass man »ohne Herz in diesem Land ein Fremder« bleibt. Das und die Erfahrung, dass kaum ein Russe dem er begegnete dem jungen Mann aus Deutschland, das wenige Jahre zuvor die Stadt in der er jetzt lebte und studierte einkesselte und für den Tod von mindestens einer Million Menschen verantwortlich war, mit Vorurteilen oder gar Hass begegnete, hinterließ tiefe Spuren. Die Prägung war so tief, dass dem Autor von Freunden bis zum heutigen Tag eine »russische Seele« zugesprochen wird. Seine Erinnerungen sind Teil unserer Geschichte und könnten vielleicht dazu beitragen, dass 70 Jahre nach dem faschistischen Überfall auf die Sowjetunion die jüngere Generation einen differenzierteren Blick auf die Völker des Ostens bekommt.