Psychiatrie im Kriegsdienst

geschrieben von Susanne Willems

5. September 2013

Die Wehrlosen gehörten stets zu den ersten Opfern

Sept.-Okt. 2011

Krieg und Psychiatrie 1914-1950 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus Band 26), hrsg. von Babette Quinkert, Philipp Rauh und Ulrike Winkler, Wallstein Verlag, Göttingen 2010.

Karl Heinz Roth: Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen: Der Konflikt der Psychotherapeuten und Schulpsychiater um die deutschen »Kriegsneurotiker« 1915-1945, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Heft 3/1987, S. 8-75.

Den Band 26 der Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus stellten die Mitherausgeber Ulrike Winkler und Philipp Rauh im Mai vor der Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung vor. Unter dem Titel »Krieg und Psychiatrie 1914-1950« versammelt der Band so verschiedene Themen wie die von Philipp Rauh erörterte Funktion der Militärpsychiatrie für die Fronttauglichkeit der Soldaten in beiden Weltkriegen und die von Ulrike Winkler in ihrer Studie zu den Massenmorden an den Bewohnern der psychiatrischen Anstalten in Mogilew im September 1941 und Januar 1942. Gestützt auf sowjetische und deutsche Ermittlungsakten und Zeugenberichte, die 1948 zur Verurteilung des von den deutschen Besatzern zum Klinikdirektor beförderten einheimischen Mediziners führten und 1972 im Dresdner Prozeß einem erst durch Ermittlungen des Ministeriums für Staatssicherheit in den 60er Jahren aufgefallenen Beteiligten des Einsatzkommandos 8 der Einsatzgruppe B eine lebenslange Haftstrafe eintrug, konnte Winkler gemeinsam mit ihrem Ko-Autor, dem Mediziner Gerrit Hohendorf, den Hergang des Verbrechens an allen etwa tausend Patienten rekonstruieren. Sie wurden für die erste Vernichtungsaktion nach Arbeitsfähigkeit selektiert, die zweite traf alle verbliebenen Patienten, so daß die Wehrmacht die Gebäude als Lazarett übernehmen konnte. Seit Beginn des Kriegs wurden Psychiatriepatienten Opfer von Massakern und moderneren Vernichtungsaktionen unter Beteiligung der durch die Euthanasieverbrechen seit 1939 erfahrenen Massenmord-Experten. Wann immer die Wehrmacht Raumbedarf hatte oder die Okkupationsverwaltung Nahrungsmittel einsparte, traf es die Wehrlosesten zuerst. Die Spezialkommandos der SS metzelten Psychiatriepatienten mal im Maschinengewehrfeuer nieder, massakrierten sie, provisorisch einpfercht, mit Sprengstoff oder ließen sie – wie in Mogilew – in abgedichteten Räumen durch Kohlenmonoxyd, eingeleitet von Auspuffrohren laufender Kraftfahrzeuge, ersticken – eine seit 1940 gängige Mordtechnik, die – mit dem Personal der Euthanasieverbrechen – in den Vernichtungslagern des Völkermords an den europäischen Juden eingesetzt wurde. In den beiden Konzentrations- und Vernichtungslagern Majdanek und Auschwitz hingegen blieb die SS bei dem im August und Anfang September 1941 zuerst zur Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener und erkrankter Auschwitzer Gefangenen eingeführten Zyklon B.

Philipp Rauh legte in seinem Vortrag das medizinisch nicht haltbare, aber für die sich der deutschen Militärpsychiatrie andienenden Neuropsychiater und Psychotherapeuthen in den Weltkriegen politisch opportune Vorurteil offen, das jeglichen Zusammenhang zwischen Kriegsalltag und psychischen Erkrankungen bestritt. Dieses mal politisch, mal rassistisch überlagerte Axiom einer behaupteten kriegsunabhängigen Disposition ließ sich trefflich mit der Diskriminierung psychisch erkrankter Kriegsinvaliden in der Rentenversorgung vereinbaren. Dennoch in der Weimarer Republik wegen kriegsbedingter psychischer Erkrankungen anerkannte Kriegsdienstbeschädigte ließ die Naziregierung 1938 per Gesetz ausschließen, rückwirkend und für den kommenden Krieg. In der Folge wurden auch die kriegsinvaliden Bewohner psychiatrischer Anstalten Opfer der Euthanasieverbrechen, zuerst die nicht arbeitsfähigen. Verwundert läßt den kritische Geschichtsschreibung gewohnten Leser allerdings die von Mitherausgeberin Babette Quinkert redaktionell verantwortete Einleitung dieses Sammelbands zurück, die mit einem Plädoyer für die personelle Aufstockung der Militärpsychiatrie der Bundeswehr schließt. Der Band handelt davon, wie deutsche Neuropsychiater und Psychotherapeuten sich in den Dienst beider Weltkriege stellten und als »Maschinengewehre hinter der Front« die Todesangst erkrankter Soldaten zwischen Militärjustiz und Psychiatrie ausnutzend vor keiner Methode der Folter zurückschreckten, um deren Kriegstauglichkeit zu erzwingen, im Zweiten Weltkrieg je nach Waffengattung modifiziert, wie Karl Heinz Roth aufgrund seiner medizinisch und historisch fundierten Quellenanalyse ihrer letztlich terroristisch kongruenten Methoden bereits 1987 als Merksatz formulierte: »für die Landser fast aller Ränge Starkstrom, für die Fliegerbesatzungen Psychotherapie und autogenes Training«.

Die einzige Hilfe für Soldaten, die sich aus der Zwangslagen des Kriegs befreien wollen, ist die Nutzung ihres Rechts auf Kriegsdienstverweigerung, das ihnen auch dann zusteht, wenn sie sich freiwillig zu dem vergleichsweise hochdotierten mörderischen Auslandsabenteuer mit der Bundeswehr gemeldet haben.