Roma in Europa

geschrieben von Jürgen Weber

5. September 2013

Diskriminierung in Ungarn, der Tschechischen Republik und Polen

Sept.-Okt. 2012

Roma-Kinder in Gyöngyöspata sind vom Schwimmunterricht im öffentlichen Bad ausgeschlossen und werden in getrennten Klassen unterrichtet. Das ist kein Einzelfall in Ungarn. Eszter Jovánovics vom unabhängigen Roma-Programm der HCLU erklärt, dass es vielerorts getrennte Klassen und unterschiedliches Unterrichtsniveau gäbe. Die Segregation der Kinder führe zu stereotypem Verhalten und Vorurteilen auf der einen und geringen Bildungschancen auf der anderen Seite. Diese Form der Diskriminierung, so Jovánovics, führe wiederum zu Armut auch in der nächsten Generation. Ein Problem, das auf zahlreiche Staaten Europas zutrifft. In der Tschechischen Republik sorgte die Praxis, Roma-Kinder in Schulen für geistig Behinderte zu unterrichten, für scharfe Kritik von Menschenrechtsorganisationen.

Roman Kwiatkowski sitzt in seinem Büro in Au-schwitz. Er beißt sich kurz auf die Lippe, dann erzählt er, wie fast alle Mitglieder seiner Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert und in den Gaskammern umgebracht wurden. Roman Kwiatkowski gehört der Nachkriegsgeneration an, ist Mitglied im polnischen Auschwitz-Komitee und Präsident des Verbandes der polnischen Roma. Der Sitz des Verbandes in Auschwitz ist sehr eng mit der Geschichte der europäischen Roma verknüpft. Im Frühjahr 1940 wurden die polnischen Sinti und Roma systematisch in Ghettos interniert. Im Mai fanden dann die ersten Deportationen aus Sammellagern im Hamburger Hafen, in den Kölner Messehallen und im Zuchthaus Hohenasperg bei Stuttgart in die polnischen Ghettos und zur Zwangsarbeit nach Polen statt. Ab 1942 wurde die generelle Überführung aller Sinti und Roma in Konzentrationslager von Heinrich Himmler angeordnet. Nach dem Aufstand im »Zigeunerlager« am 16. Mai 1944 in Auschwitz-Birkenau konnten die beteiligten Sinti und Roma ihre Ermordung zunächst abwenden. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden die letzten fast 3000 Männer, Frauen und Kinder in den Gaskammern ermordet und das »Zigeunerlager« in Auschwitz-Birkenau aufgelöst. Insgesamt fielen rund 500.000 Sinti und Roma dem Rassenwahn der Nationalsozialisten und dem an ihnen systematisch geplanten Völkermord zum Opfer.

Roman Kwiatkowski wurde in der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza zitiert: »Keine andere Minderheit wird in Europa so sehr diskriminiert wie die Roma. Ihre Situation gleicht so langsam derjenigen der Juden vor dem Zweiten Weltkrieg.« Wie kommt ein so geschichtsbewusster Mensch zu dieser Aussage? Unsere Spurensuche beginnt in Ungarn.

»Du musst den Kandidaten des Fidesz wählen, wenn du einen Bürgermeister der rechtsradikalen Jobbik verhindern willst, Alternativen dazu gibt es nicht«. Judit Nagy spricht von ihrem Heimatdorf bei Debrecen, nahe der rumänischen Grenze. Sie ist Übersetzerin in Budapest und bei Amnesty International ehrenamtlich tätig. Gyöngyöspata liegt gut eine Autostunde nordöstlich der ungarischen Hauptstadt. Einige Meter nach dem Ortsschild findet sich eine weiße Tafel mit dem Hinweis auf Videoüberwachung, dahinter eine langgezogene Dorfstraße mit kleinen Einfamilienhäusern. Die »schwäbische Kehrwoche« scheint hier gut organisiert zu sein. In den Vorgärten blühen die gleichen Blumen in rechteckigen Beeten. Haus um Haus, bis zur »Wehrkirche der Jungfrau Maria« auf einer kleinen Anhöhe. Der Rasen dort ist kurz geschnitten. Alles ist ordentlich und sauber. Kein Mensch ist an diesem Sommernachmittag auf der Straße der 2800 Einwohner zählenden Gemeinde unterwegs. Nicht einmal die Videokameras sind auszumachen.

Unterhalb des Ortskerns in einer kleinen Talsenke am Rande des Dorfes wandelt sich das Straßenbild abrupt. Keine Gehsteige mehr und kaum befestigte Straßen. In die gesamte Infrastruktur wurde lange nichts investiert. Hier lebt János Farkas. Er ist Sprecher der Minderheit von rund 400 Roma im Dorf. Das Klischee des »Fahrenden« trifft auf ihn nicht zu: Seine Vorfahren sind seit 600 Jahren in dieser Gegend beheimatet, wie er uns sagt. János Farkas spricht kein Romanes, die Minderheitensprache der Roma, nur seine Muttersprache Ungarisch. In dieser weiß er davon zu berichten, was es heißt, Rom in einem von der »Bewegung des besseren Ungarns« kontrollierten Ort zu sein. Kontrolliert ist in diesem Teil der Gemeinde durchaus wörtlich zu nehmen: Am Strommasten unmittelbar vor seinem Haus ist zwischen allerlei wirr befestigten Kabeln eine Videokamera angebracht. Moderne Überwachungstechnologie findet sich in allen von Roma besiedelten Straßen im Dorf. Uniformierte rechtsradikale Milizen belagerten unbehelligt von der ungarischen Polizei wochenlang die Siedlung, veranstalteten Aufmärsche, drohten den hier lebenden Roma und bewarfen ihre Häuser mit Steinen. Eine Pogromstimmung, die zum Ziel hatte, die »Fremden« zu vertreiben. Nachdem an einem Abend vor Ostern 2011 ein 13-jähriger Roma-Junge von den rechtsradikalen Marschierern niedergeschlagen und schwer am Auge verletzt wurde, eskalierte die Situation. Bei Auseinandersetzungen gab es mehrere Verletzte. Erst jetzt, als sich die Roma zur Wehr setzten, schritt die Polizei ein. Rund 300 von ihnen wurden vom Roten Kreuz für einige Tage aus Gyöngyöspata evakuiert. Unter ihnen befand sich auch János Farkas. Wenn er über die Verhältnisse im Dorf spricht, hält es ihn nicht auf seinem Stuhl. Er geht immer wieder zum offenen Fester und wirft einen Blick auf die Straße.

Mitarbeiter der Menschenrechtsorganisation »Hungarian Civil Liberties Union« (HCLU) waren bis vor wenigen Wochen vor Ort, um die Selbstorganisation der Roma zu fördern. Laut der Projektleiterin Eszter Jovánovics sind viele der Roma-Kinder von Gyöngyöspata traumatisiert.

Die Lage im Dorf hat sich nicht entspannt. Das liegt in erster Linie daran, dass die Mehrheit des Dorfes nach den Übergriffen nicht auf Versöhnung mit der Minderheit setzte, sondern den Jobbik-Kandidaten Oszkár Juhász zum Nachfolger des zurückgetretenen Bürgermeisters wählte. Jobbik bedeutet im Wortsinn »Bewegung für ein besseres Ungarn«.

János Farkas kommt vom Fenster zurück an den Tisch und erzählt uns, dass vor einigen Tagen der Notar des Dorfes bei ihm gewesen sei und vom Bürgermeister ausrichten ließ, dass er sich ab sofort Medienvertretern gegenüber nicht mehr äußern dürfe. Er sucht dennoch die internationale Öffentlichkeit, weil es das Einzige sei, was die Roma hier im Dorf schütze.

Hier im Nordosten Ungarns lebt ein großer Teil der rund 700.000 Roma im Land. Arbeit gibt es für sie praktisch keine, häufig leben sie in Ghettos am Rande der Dörfer, ihre Kinder werden in Schulen oft von den anderen Schülern getrennt und schlechter oder überhaupt nicht unterrichtet. Kaum Chancen auf Bildung. Kaum Chancen auf Arbeit. Als Roma stigmatisiert, ausgegrenzt und diskriminiert. Von vielen Medien und weiten Teilen der Bevölkerung werden sie zunehmend zu »Sündenböcken« der allgemeinen sozialen Lage in der Wirtschafts- und Finanzkrise gemacht. Die Situation der Roma erscheint wie ein unaufhörlicher Kreislauf von Diskriminierung, Armut und Vertreibung – vergleichbar einem Wagenrad, dem internationalen Symbol der Roma. In diesem gesellschaftlichen Klima kann man mit der Hatz auf die unliebsame Minderheit politisch punkten und Wahlen gewinnen. Das haben die politischen Führer am rechten Rand längst erkannt und haben Rückenwind.

Der parlamentarische Ombudsmann für Minderheiten, Ernö Kallai, zieht in seinem Schlussbericht das Resümee, dass die »nationale Romastrategie« der Fidesz-Regierung »gegen die Menschenwürde« gerichtet sei. Kallai ist nach diesem Bericht nicht mehr im Amt, die Stelle wurde gestrichen und stattdessen ein »Staatssekretär für Romafragen« eingesetzt. Doch im Sog des Umbaus der »nationalen Ressourcen« durch die Fidesz-Regierung nähert sich von weit rechts ein gewaltiges Wetterleuchten: Auf dem Parteitag Ende Mai grollte der Fraktionsvorsitzende der drittstärksten Fraktion im ungarischen Parlament und Vorsitzender der rechtsradikalen Jobbik, Gábor Vona, gegen den Ministerpräsidenten und prophezeite dessen Abwahl bei den ungarischen Parlamentswahlen 2014. Wahlsieger und stärkste Partei sollen dann die Rechtsradikalen selbst werden. Die Jobbik fischt erfolgreich in der Zweidrittelmehrheit der Wählerschaft der ungarischen Regierungspartei. Zumal es in der Amtszeit des Viktor Orbán weiter wirtschaftlich bergab geht im Land. Die jüngsten Umfragen sehen die rechtsradikale Jobbik mit einem Prozentanteil von 20% bis 25% doppelt so stark wie bei der Parlamentswahl 2010. Zusammen kamen die beiden nationalen Kräfte Ungarns, Fidesz und Jobbik, vor zwei Jahren auf über 80% der Wählerschaft. Genügend Potenzial für den 33-jährigen Rechtsaußen Gábor Vona, vor den 700 Jobbik-Delegierten des Parteitags die Machterlangung im Budapester Parlamentsgebäude an der Donau zum obersten Ziel der Partei auszurufen. Vor ihm am Rednerpult prangt auf den Farben der ungarischen Flagge der Schriftzug »Nur die Nation!«. Die Programmatik seiner Partei dreht sich dabei um ein einziges Thema: Die so genannte Roma-Kriminalität. Nur in einem solchen Klima ist erklärbar, dass im Budapester Nehru Park das Denkmal für die im Holocaust ermordeten Roma mit Sprüchen wie »Zigeuner ins Gas« und Hundekot beschmiert wurde. Bereits zum dritten Mal haben Bürgerinnen und Bürger das 2006 errichtete Denkmal von Schändungen gereinigt, weil sich Stadtverwaltung und Bezirk dafür nicht zuständig fühlen. Bei unserem Besuch ist das Mahnmal beschädigt.

Der Jobbik-Vorsitzende Gábor Vona machte auf dem jüngsten Parteitag keinen Hehl daraus, wie er sich die »Lösung der Zigeunerfrage« vorstellt. Am Beispiel Gyöngyöspata habe die Öffentlichkeit »Jobbik in Aktion und aus erster Hand erleben können«. Wo der Fidesz versage, schreite Jobbik zur Tat, so deren Vorsitzender. Wie diese Taten aussehen sollen, lassen die Rechtsradikalen nicht offen. Demnach will Jobbik eine landesweite »Bürgermiliz« aufstellen, die für »Ruhe und Ordnung« sorgen soll. Alle Roma sollen zur Arbeit eingeteilt werden, wer sich sträubt, kommt in Lager, auch »Maßnahmen zur Geburtenkontrolle« bei Romafrauen, um die »ausufernden demographischen Verschiebungen zum Nachteil des Ungarntums« aufzuhalten, wurden bereits vorgeschlagen. Die Kinder sollen den Eltern entzogen und in Spezialheimen zu guten Ungarn erzogen werden. Vorschläge, die auf breiten, positiven Widerhall bei großen Teilen der Bevölkerung stoßen, wie die deutschsprachige Zeitung »Pester Lloyd« aus Budapest schreibt.

Auch in der Tschechischen Republik werden die Roma zu »Sündenböcken« für zunehmende wirtschaftliche und soziale Probleme gemacht. Dieser »Sündenbock«-Effekt lässt sich auch an einem Ereignis aus dem Frühjahr 2012 im rund 60 Kilometer südlich von Brünn gelegenen Beclav belegen. Ein 15-jähriger Junge war bei einer Mutprobe schwer verunglückt und verlor eine Niere. Aus Angst erfand er die Geschichte, dass drei Roma-Jungen ihn grundlos niedergeschlagen hätten. Die tschechische Presse griff die Geschichte auf und es kam zu Demonstrationen mit Hass-Parolen durch die Roma-Siedlungen der Stadt. Erst später gestand der Junge, sich die Geschichte ausgedacht zu haben.

Solche romafeindlichen »Hassmärsche« gehören in Nový Bor, Most und Varnsdorf im Norden der Tschechischen Republik seit Monaten zur gesellschaftlichen Normalität. Doch es sind längst nicht nur aktive Neofaschisten, die marschieren und Hass-Parolen wie »weg mit den Zigeunern«, »holt den Hitler wieder« und »Roma ins Gas« skandieren. Obwohl es dabei auch regelmäßig zu Angriffen auf Romaunterkünfte kommt, werden die Aufmärsche im Kern von weiten Teilen der Bevölkerung getragen.

Dabei setzten sich neofaschistische Parteien wie die DSSS (»Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit«) mit rassistischen Klischees und Vorurteilen gegen Roma an die Spitze einer breiten Mehrheit der Bevölkerung. Meinungsbilder, die auch von weiten Teilen der Medien in der Tschechischen Republik getragen und geschürt werden. Der Journalist Stefan Heinlein zitiert in einer »Weltzeit«-Reportage von 2012 im Deutschlandradio Kultur zwei junge Roma-Frauen über einen dieser »Hassmärsche« durch ihr Viertel mit den Worten: »Sie marschieren mit Fahnen und Sprechchören. Sie werfen Steine und Rauchbomben auf unsere Fenster. Sogar unsere Nachbarn machen mit, Leute, die ich gut kenne«.

Pogromartige Angriffe heraus aus einem Mob und Anschläge im Dunkel der Nacht auf Unterkünfte, Leib und Leben der Roma-Minderheit gehören zur Realität – nicht nur in der Tschechischen Republik. Die wenigsten davon finden in den internationalen Medien Beachtung, wie etwa die Morde an einem 27-jährigen Roma und seinem fünfjährigen Sohn. Sie wurden 2009 im Dorf Tatarszentgyörgy, südöstlich der ungarischen Hauptstadt Budapest, beim Versuch, aus ihrem angesteckten Haus zu fliehen, mit einer Schrotflinte erschossen. Oder der Fall eines zweijährigen Mädchens aus dem tschechischen Vítkov, die im März 2010 bei einem solchen Brandanschlag lebensgefährlich verletzt und für immer entstellt wurde.

Eszter Jovánovics betont, dass dies keine Einzelfälle sind. »In den letzten zwei Wochen passierte jeden Tag etwas«. In einem Ort im Nordosten Ungarns, so die Budapester Menschenrechtlerin, wurden kopierte Zettel durch die Fenster der von Roma bewohnten Häuser geworfen, in denen sie aufgefordert wurden, den Ort zu verlassen, sonst würden ihre Häuser in Flammen aufgehen. In einem anderen Dorf wurden an die Häuser der Roma Kreuze und an ein Haus wurde ein Hakenkreuz gemalt. Das waren Zeichen, dass diese Häuser brennen werden, führt sie aus. Ein jüdisches Denkmal in Budapest wurden letzte Woche mit blutigen Schweinebeinen behängt und ein Holocaust-Denkmal wurde mit einem Hakenkreuz beschmiert und darauf geschrieben: »Ihr werdet alle in der Donau enden«. Der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma berichtete von uniformierten Aufmärschen paramilitärischer Gruppen in der westungarischen Ortschaft Devecser am ersten Augustwochenende dieses Jahres. Mehr als 1000 Anhänger und Jobbik-Aktivisten hätten Häuser der ortsansässigen Roma angegriffen, so eine Presseerklärung des Zentralrats. Die Jobbik demonstrierte für die Wiedereinführung der Todesstrafe in Ungarn. Erneut versuchte Jobbik, so der Zentralrat, ähnlich wie im vergangenen Jahr in der Ortschaft Gyöngyöspata, einen ethnischen Konflikt zu inszenieren, indem sie gewaltsam gegen die in Devecser ansäßigen Roma vorging.

Eine Studie für das Prager Innenministerium der Masaryk-Universität in Brünn aus diesem Frühjahr kommt zu dem Schluss, dass in der Tschechischen Republik 4000 militante Neonazis aktiv sind. Die Verfasser der Studie befürchten zunehmende Gewalt gegen die Roma-Minderheit im Land. Neonazis würden demnach unter dem Vorwand, Recht und Ordnung gegen »Roma-Kriminalität« wieder herzustellen, »zur Taktik der Lynch-Justiz übergehen, von der sie sich die Unterstützung der Öffentlichkeit versprechen würden«. Ideologische Unterstützung bekommen die tschechischen Neofaschisten unterdessen auch aus dem benachbarten Sachsen. An zahlreichen der »Hassmärsche« beteiligen sich deutsche Neonazis und auf einer Kundgebung der DSSS in Prag im vergangenen Mai waren NPD-Kader als Redner geladen. Gegendemonstranten wurden mit Flaschen und Steinen beworfen.

Angesichts einer solchen gesellschaftlichen Isolierung, der Angriffe, Pogrome und staatlicher Diskriminierung braucht es nicht viel Phantasie, um sich in die Situation der Roma in verschiedenen osteuropäischen Staaten zu versetzen.

»Habt ihr das verlassene Haus da drüben gesehen«, János Farkas deutet aus dem Fenster die Straße hinauf, »sie sind in Kanada«. Im ungarischen Gyöngyöspata haben rund 60 Roma das Wenige, das sie hatten, verkauft und in Kanada politisches Asyl beantragt, berichtet er. Vertreter der kanadischen Regierung seien neulich im Dorf gewesen, doch der Jobbik-Bürgermeister habe sie nicht empfangen. Auch in seiner Straße hätten sie sich umgesehen.

4450 Asylanträge ungarischer Bürgerinnen und Bürger liegen den kanadischen Behörden allein aus 2011 vor. Im ersten Jahr der Fidesz-Regierung 2010 waren es noch 2350 Personen, die um politisches Asyl ersuchten. Juden, Intellektuelle und vor allem Roma machen politische Verfolgung in ihrer ungarischen Heimat bei den Behörden in Kanada als Fluchtgrund geltend. Menschen aus Ungarn stellen somit den drittgrößten Flüchtlingsanteil, der das nordamerikanische Land erreicht. Die Budapester Rechtsanwältin des »European Roma Right Centre«, Judit Geller, bestätigt den Besuch der kanadischen Delegation auch beim ERRC. »Die kanadische Regierung ist irritiert, dass eine so bedeutende Anzahl von Menschen aus einem Mitgliedsland der Europäischen Union flieht«, so die Rechtsanwältin. Sie warnt aber davor, nur nach Osteuropa zu blicken: Gravierende Fälle von Diskriminierung und Verfolgung gäb es beispielsweise auch in Frankreich oder Italien. »Antiziganismus ist ein gesellschaftliches Problem in ganz Europa«, ergänzt sie.

Die Regierung im kanadischen Ottawa prüft unterdessen, die Visumspflicht für Ungarn wieder einzuführen. Die Behörden informieren sich mittlerweile aber auch über die Fluchtgründe ungarischer Bürgerinnen und Bürger. Bereits im vergangenen Jahr hatte ein Sprecher der kanadischen Romagemeinde in Toronto bei der Regierung angemahnt, »Kanada sollte nicht einfach davon ausgehen, dass solche Asylanträge unbegründet sind«. Nach seiner Einschätzung handle es sich vielmehr um »ein abscheuliches Wiedererwachen des Faschismus«.

Die so genannte nationale Romastrategie der Fidesz-Regierung sollte jedoch wegweisend für die Romastrategie der Europäischen Union sein und Armut und Diskriminierung überwinden, so die wohlklingende Zielsetzung während der ungarischen Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2011. Der ehemalige Ombudsmann für Minderheiten, Ernö Kallai, bescheinigt dem Programm der Regierung ganz andere Folgen. Er sieht insbesondere durch das Beschäftigungsprogramm als zentrale Maßnahme der »nationalen Romastrategie« der Fidesz-Regierung Menschenwürde und Menschenrechte vielfach verletzt. Maßnahmen, die innerhalb der Europäischen Union kaum kritisch hinterfragt und vom deutschen Botschafter Matei Hoffmann in Budapest als vorbildlich gelobt werden. So ist auf der Homepage der Deutschen Botschaft aktuell zu lesen, die ungarische Regierung habe »wichtige politische Projekte, etwa die EU-Strategie für den Donauraum und die EU-Roma-Rahmenstrategie, vorangetrieben«.

Kallai weist in seinem Bericht aus diesem Jahr am Fall Gyöngyöspata nach, dass das Beschäftigungsprogramm gezielt für rassistisch motivierte Schikanen eingesetzt wird, an deren Ende der vollständige Existenzentzug stehen kann, mit dem durchaus erwünschten Ziel, die ungarischen Roma aus den Wohnorten zu vertreiben. Zudem sieht er insbesondere durch die mögliche »Verschickung« der zur Arbeit angehaltenen Roma an ferne Arbeitsorte und Unterbringung in Behelfsunterkünften lagerähnliche Zwangsarbeitsbedingungen. Auch Roman Kwiatkowski in Auschwitz ist sauer auf die Europäische Union. »Die EU hat keine Strategie für die Roma. Was jetzt in Ungarn gemacht wird, ist in keiner Weise evaluiert«, so sein Fazit. Er bemängelt auch, dass es viele engagierte und junge, wissenschaftlich gut ausgebildete Roma – beispielsweise in Ungarn oder Tschechien – gäbe, die nicht in die Entwicklung der Programme eingebunden würden.

Kommunen in Ungarn machen die Auszahlung von Sozialleistungen an Roma davon abhängig, ob bei »Hausbesuchen« durch Gemeindevertreter die Ordnung innerhalb der Wohnung gewährleistet ist. Auch der Bürgermeister in Gyöngyöspata macht »Hausbesuche« bei Roma-Familien in Begleitung seiner Jobbik-Miliz und sieht »nach dem Rechten« und der Ordnung in den Wohnungen. Alle Roma-Familien in Gyöngyöspata sind abhängig vom Jobbik-Mann im Rathaus. Er leitet das kommunale Beschäftigungsprogramm der »nationalen Roma-strategie« der Fidesz-Regierung. Demnach werden keine Sozialleistungen mehr an Roma ausbezahlt, sondern die Bezieher für rund 180 Euro im Monat zur gemeinschaftlichen Arbeit herangezogen. Wer sich dieser Arbeit verweigert, verliert drei Jahre lang das Recht auf soziale Leistungen durch den ungarischen Staat.

In Gyöngyöspata entscheidet dies der Bürgermeister und die Roma werden im Beschäftigungsprogram von seinen Jobbik-Leuten beaufsichtigt. »Wir sind auf diese Arbeit angewiesen«, erklärt Farkas, »es gibt sonst keine Arbeit für uns«. Einmal hat er sich beim Innenministerium beschwert, weil sie von den Jobbik-Leuten immer wieder angewiesen wurden, in privaten Häusern und Gärten im Dorf Arbeiten zu verrichten. »Alles in Ordnung«, kam von dort zurück, so Farkas. Die Rechtsradikalen machten nicht einmal Halt davor, die Roma im staatlichen Beschäftigungsprogramm die Straßen säubern und schmücken zu lassen, bevor die Jobbik einen ihrer uniformierten Umzüge gegen »Zigeuner-Terror« durchs Dorf marschieren ließ. »Wissen Sie, an was mich das erinnert, wenn wir hier von den Jobbik-Milizen zur Arbeit abgeholt werden?«, fragt Farkas und antwortet ohne Pause: »An die Kolonnen aus den Konzentrationslagern«. Schließlich empört er sich: »Wir sind doch genauso Bürger der EU. Es ist eine Schande, dass so etwas im 21. Jahrhundert passieren kann!« Nach einer kurzen Pause fährt er fort: »Sagen Sie den Menschen, dass es seit 16 Monaten keine Demokratie in diesem Dorf gibt.«