Rückblicke auf 1933

geschrieben von Ludwig Elm

5. September 2013

Atemberaubender »Mut zur Lücke« in den Medien

Juli-Aug. 2008

Eine neue Veröffentlichung unseres Autors Prof. Dr. Ludwig Elm

Legal in den Verbrecherstaat? Zum Anteil aller bürgerlichen Parteien an der Zerstörung der Weimarer Republik und der Errichtung der nazistischen Diktatur 1932/33, Jena 2008

16 S. (Rosa-Luxemburg-Stiftung Thüringen e. V. – Texte & Argumente)

Der venezolanische Präsident Hugo Chávez bemerkte kürzlich, dass die Bundeskanzlerin zu jener politischen Rechten in Deutschland gehört, die Hitler an die Macht gebracht habe. Obwohl polemisch vergröbert, ist die Aussage im Kern zutreffend. Deutsche Politiker und Publizisten behaupteten, Merkel sei von Chávez mit Hitler verglichen oder gar gleichgesetzt worden. Die gefälschte These ist da unhaltbar leichter zu denunzieren. Die Episode ist symptomatisch. Die herrschende Geschichtsideologie weigert sich weiterhin, elementare Wahrheiten von 1932/33 einzugestehen. Das verraten Beiträge zu den Vorgängen vor 75 Jahren.

Auch im Jahr 2008 beherrscht das rechtsgerichtete Totalitarismus-Konzept die Äußerungen von Politikern, Publizisten und Wissenschaftlern zum Scheitern der Weimarer Republik und zur Errichtung der NS-Diktatur. Ihm zufolge hätten Nazis und Kommunisten die parlamentarische Demokratie zerstört. Das Ausmaß der Zermürbung des Gemeinwesens sei laut Spiegel (3/2008) daran zu erkennen gewesen, »dass 1932 mehr als die Hälfte der Wähler für NSDAP und KPD gestimmt hatten für Parteien also, die sich blutig bekämpften und deren Führungen politische Morde guthießen.« Die antikommunistische Deutung lässt sich in ihren Grunddogmen auch von Forschungsergebnissen nicht beirren.

In der Gedenkstunde des Bundestages am 10. April 2008 bediente Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) diese Klischees: »In einer beispiellosen Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung, mit der sich in Straßen- und Saalschlachten zunehmend der Eindruck eines begonnenen Bürgerkrieges verbreitete und Pöbeleien und Prügeleien als Obstruktionsstrategie der Republikfeinde zum parlamentarischen Alltag wurden«, sei die Parlamentsverachtung in der Bevölkerung gewachsen. Hätten kommunistische und sozialdemokratische Arbeiter sowie Gewerkschafter früher und kampflos die Versammlungsräume, Straßen, Wohngebiete und Städte den Nazis überlassen sollen, deren provokatorische Aufmärsche von rechtsbürgerlichen Politikern, Beamten und Juristen immer wieder begünstigt wurden?

Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik von Ende 1932 wird unverändert für das »Rot gleich Braun«- Schema strapaziert: Die Nazis beteiligten sich daran, um mit sozialer Demagogie ihren Einfluss unter Arbeitern zu vergrößern. Für die Entscheidung über das Herrschaftssystem im Deutschen Reich war der Konflikt bedeutungslos. Die geschichtsfälschende Parallelisierung richtet sich gegen die Linke von gestern und heute. Die spezifische terroristisch-menschenverachtende Natur der faschistischen Bewegung und Ideologie verschwindet ebenso wie der antifaschistische Widerstand der Kommunisten der ersten Adressaten eines zunehmend flächendeckenden Terrors. Zugleich wird von den Kräften in Politik, Wirtschaft und Geistesleben abgelenkt, die sich ab 1931/32 auch offen mit dem Nazismus verbündeten.

»Im Gegensatz zu Lenin und anderen Diktatoren«, ist im genannten Spiegel-Heft über Hitler zu lesen, »verdankte er seinen Aufstieg demokratischen Wahlen.« Es wird unterschlagen, dass es sich um den Unterschied zwischen einer wirklichen Revolution und einer Machtverschiebung innerhalb einer bürgerlich-aristokratisch beherrschten Gesellschaft handelt. Hinzuzufügen ist, dass es Millionen Wähler Hitlers in der Krise der Republik auch deshalb gab, weil sie von den Nutznießern des Bildungsprivilegs seit Jahrzehnten vor allem völkisch-nationalistisch, großmachtpolitisch und antisozialistisch erzogen worden waren. Spiegels Geschichtsbild reproduziert die antikommunistischen Bedrohungslügen von 1932/33. Auch die Motive ähneln sich: Politische Ängste und Desorientierungen dienen dazu, eigene Vorstellungen und Interessen durchzusetzen.

Helmut Schmidt verkündet im Juni 2008 (Zeit-Magazin Nr. 26) unbelehrbar und unwidersprochen, die Weimarer Republik sei zugrunde gegangen wegen der Wirtschaftskrise »und weil Nazis und Kommunisten sie sodann gemeinsam kaputt gemacht haben.« Auch die Mär von der Alleinschuld van der Lubbes am Reichstagsbrand wurde wieder aufgewärmt. Sie ist zählebig, weil sie Raum lässt für den Verdacht, dass es Anfang 1933 im kommunistischen Lager Sympathien oder gar Vorbereitungen für Provokationen und Putsche gegeben hätte.

Zur Situation im Januar 1933 war in Heft 27 von Geoepoche zu lesen: »Der Reichstag, in dem rechte und linke Extremisten die Mehrheit haben, ist handlungsunfähig.« Der Historiker Michael Stürmer, der beruflich von Tatsachen ausgehen und es besser wissen sollte, schrieb am 5. März 2008 in Die Welt: Während »die Sozialdemokraten im Reichstag zu retten suchten, was zu retten war, blockierten KPD und NSDAP in tobender Wahlverwandtschaft das Parlament«. Tatsächlich waren der im Juli 1932 sowie der im November 1932 gewählte Reichstag handlungsunfähig allerdings durch eine rechte Mehrheit: Alle bürgerlichen Parteien wählten Hermann Göring beide Male zum Präsidenten des Parlaments. Sie ließen ihre Vizepräsidenten auch von den Nazis wählen und halfen Göring, die Arbeit des Reichstags lahmzulegen. Initiativen von SPD und KPD wurden vom bürgerlichen Block abgelehnt und die Volksvertretung ausgeschaltet, bis hinter den Kulissen das Kabinett Hitler ausgehandelt war. Nur SPD und KPD brachten am 30. Januar 1933 Anträge ein, der Reichstag möge der Regierung Hitler das Vertrauen entziehen.

Die am antidemokratischen Intrigenspiel maßgeblich beteiligten Vorläuferparteien der CDU/CSU Zentrum und Bayerische Volkspartei (BVP) werden in bundesdeutschen Medien kaum erwähnt. Das gilt erst recht für ihre Spitzenpolitiker wie die Parteivorsitzenden Prälat Ludwig Kaas und Fritz Schäffer, aber auch den Kölner Oberbürgermeister (seit 1917) und Vorsitzenden des Preußischen Staatsrats (1920-1933), Konrad Adenauer. Mit der Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz am 23. März 1933 gaben alle bürgerlichen Parteien die Republik auf.

Gemeinsam mit NSDAP und Deutschnationaler Volkspartei (DNVP) brachten Zentrum und BVP eine außenpolitische Entschließung ein, mit der der Reichstag die verlogene friedenspolitische Rede Hitlers am 17. Mai 1933 billigte und »sich geschlossen hinter die Reichsregierung« stellte. Alle übrigen, nach der bereits im März erfolgten Annullierung der Mandate der KPD im Reichstag verbliebenen Parteien einschließlich der bereits dezimierten SPD-Fraktion, stimmten zu. Der Spiegel (3/2008) bemerkte zwar zu 1933, dass die Rolle der bürgerlichen Parteien »auf ewig ein Schandmal der Geschichte des deutschen Bürgertums bleiben« wird. Aber die für das Versagen verantwortlichen Parteien und Politiker blieben ungenannt.

Die Anonymisierung der Ja-Sager von 1933 diente ab 1948/49 der Restauration und wird heute als geschichtsideologische Legitimation für CDU/CSU, FDP und ihnen nahestehende Gruppierungen benutzt. In der erwähnten Gedenksitzung des Bundestages meinte selbst Hans-Jochen Vogel (SPD), hier sei »nicht der Ort, über die Gründe zu rechten, aus denen nicht nur die Nationalsozialisten und die Deutsch-Nationalen, sondern auch die Abgeordneten der anderen Parteien« dem Ermächtigungsgesetz zustimmten. Zutreffend stellte er jedoch fest, dass damit »der Übergang zur Diktatur vollendet und allem, was dann folgte, der Boden bereitet« war. Die verbreitete Phrase, dass es der Republik an wirklichen Demokraten gefehlt habe, ersetzt die konkret-historische Kritik.

Im Spiegel Spezial Geschichte (1/2008) zu »Hitlers Machtergreifung« fehlen in der Chronik für die ersten Monate 1933 Ereignisse, die tatsächlich für die Machtfrage entscheidend waren und Wesentliches über den entstehenden »Verbrecherstaat« (Karl Jaspers) verraten: Die geheime Rede Hitlers vor den Befehlshabern der Reichswehr am 3. Februar sowie das Treffen Hitlers und Görings mit etwa zwei Dutzend Industriellen und Bankiers am 20. Februar. An Letzterem nahmen u. a. teil: Robert Bosch (IG Farben), Alfried Krupp von Bohlen und Halbach (Reichsverband der deutschen Industrie), Hjalmar Schacht (Bankwesen) und Albert Vögler (Vereinigte Stahlwerke). Unter den mehr als dreißig Beiträgen des Heftes finden sich keine zur Rolle der Reichswehrführung, der Industrie- und Bankkapitäne sowie der Führungen der bürgerlichen Parteien. Es gibt keinen Aufsatz über das geistig-moralische Versagen des Bildungsbürgertums, insbesondere der Mehrheit der Professoren, der Justiz und der höheren Beamtenschaft. Der »Mut zur Lücke« ist atemberaubend. Längst wissenschaftlich zerpflückte Legenden und Lügen werden fortgeschrieben oder neu aufgelegt. Die meisten beamteten Historiker und wohldotierten Journalisten nehmen an dem aufklärungsfeindlichen Treiben teil oder finden sich damit ohne nennenswerten Widerspruch ab. Das politische und ideelle Widerstehen gegen die fortschrittsfeindliche Deutung der verhängnisvollsten Ereignisse deutscher Geschichte muss einmal mehr vor allem von radikaldemokratischen und antifaschistischen Bewegungen ausgehen.