Schwarzes Loch Auschwitz

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

Vor 25 Jahren starb der Schriftsteller und Chemiker Primo Levi

März-April 2012

Primo Levi, Ist das ein Mensch? Die Atempause, Carl Hanser Verlag München, 617 S., 27,90 Euro

Die meisten Zitate in diesem Artikel sind dem ausführlichen Anhang der neuen Doppelausgabe entnommen, die – wenngleich als Dünndruck-Publikation nicht unbedingt immer leicht zu handhaben – mit einer beachtlichen Fülle von bio- und bibliografischem, chronologischem und erläuterndem Material aufwartet:

»Das Gas wurde von weltbekannten deutschen Chemiewerken hergestellt; und das Haar der hingemetzelten Frauen wurde an deutsche Fabriken geliefert, das Gold der den Leichnamen ausgerissenen Zähne an deutsche Banken. All das ist spezifisch deutsch, und kein Deutscher sollte es vergessen, und ebenso wenig sollte er vergessen, daß in Nazideutschland, und nur dort, selbst Kinder und Sterbenskranke in einen grausigen Tod geschickt wurden, im Namen eines abstrakten und grausamen Radikalismus, der in modernen Zeiten nicht seinesgleichen hat.«

Der italienische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi äußert diese Sätze 1987, wenige Wochen vor seinem Tod, in einem Gespräch, in dem es um eine in der damaligen Bundesrepublik Deutschland »Historikerstreit« genannte Debatte geht. Zuvor war er bereits mit dem Artikel »Buco nero ad Auschwitz« (»Schwarzes Loch in Auschwitz«) in der Zeitung »La Stampa« bitter-ironisch auf das Thema eingegangen:

»Die in Deutschland stattfindende Polemik zwischen denen, die das nazistische Massaker zu banalisieren suchen (Nolte, Hillgruber) und jenen, die seine Einzigartigkeit behaupten (Habermas und viele andere) kann uns nicht gleichgültig lassen. Die These der ersten ist nicht neu: Massaker habe es in allen Jahrhunderten gegeben, insbesondere zu Beginn des unseren, und vor allem gegen die ‚Klassenfeinde‘ in der Sowjetunion, also in der Nähe der deutschen Grenzen. Wir Deutschen haben uns im Laufe des Zweiten Weltkriegs lediglich einer schrecklichen, aber inzwischen verbreiteten Praxis angepasst: einer ‚asiatischen‘ Praxis, geprägt von Massakern, Massendeportationen, gnadenloser Verbannung in unwirtliche Regionen, Folter, dem Auseinanderreißen von Familien. Unser einzige Neuerung dabei war technologischer Natur: Wir haben die Gaskammern erfunden…«.

Es ging zu Beginn des »Historikerstreits« vor allem um die Behauptung des (West-)Berliner Historikers Ernst Nolte, der deutsche Faschismus und die von ihm verübten Massenmorde seien eine »überschießende Reaktion« auf die russische Oktoberrevolution gewesen, der »Rassenmord« der Furcht vor dem bolschewistischen »Klassenmord« geschuldet. Im Laufe der Auseinandersetzung schoben Nolte und seine Anhänger weitere geschichtsrevisionistische und NS-apologetische Konstrukte nach, in die neben antikommunistischen zunehmend auch antisemitische Positionen Eingang fanden.

Primo Levi, 1919 in Turin geboren, studiert Chemie, promoviert 1941 summa cum laude, sieht sich als Jude bei Studium und Berufsausübung durch die auch im faschistischen Italien erlassenen »Rassegesetze« behindert, engagiert sich im Widerstand, wird verhaftet und im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert. Er überlebt dank seines Berufes und glücklicher Umstände und gehört zu den Befreiten, die unmittelbar danach das Bedürfnis haben, das ihnen Widerfahrene aufzuschreiben und diese Reflexionen öffentlich zu machen.

»Ist das ein Mensch?«: Levis Aufzeichnungen aus dem Jahr 1946 erscheinen deutsch erstmals 1961 bei S. Fischer. Das Buch sei für Levi »keine Frage von Kunst und Stil« gewesen, schrieb Franziska Augstein kürzlich in der Süddeutschen Zeitung, »vielmehr wollte er in einem imaginären Gerichtsprozess eine Aussage machen.« Es sind viele Aussagen geworden über die Jahre, äußerst kunst- und stilvolle darunter in den folgenden autobiographischen Aufzeichnungen, Romanen, Erzählungen (»Die Atempause«, »Das periodische System«, »Der Ringschlüssel«, »Wann, wenn nicht jetzt?«…). Imaginären Prozessen sind reale gefolgt. Primo Levi hat sich, wie am Beispiel des bundesdeutschen »Historikerstreits« ersichtlich, in solche immer wieder auch ganz konkret eingemischt.

Aber im Jahr 1987 notiert er auch: »Jetzt bin ich müde. Und außerdem frage ich mich: ‚Wozu?‘ Wenn einst die Übersetzung eines meiner Bücher ins Haus kam, war das ein Festtag, heute beeindruckt mich das überhaupt nicht mehr. Und auch die Durchsicht der Übersetzungen in die Sprachen, die ich beherrsche, Englisch, Französisch und Deutsch (eine Klausel, die ich in alle meine Verträge aufgenommen habe) ist bloß noch eine langweilige Zusatzarbeit, nichts weiter.« Lapidar steht in der »Zeittafel« im Anhang der Ende 2011 erschienenen Neuedition von »Ist das ein Mensch?« und »Die Atempause« unter »1987, 11. April«: »Primo Levi nimmt sich in seinem Haus in Turin das Leben.«

In seinem Heimatland und anderen Ländern sind Werke von ihm – vor allem »Ist das ein Mensch?« und die Schilderung der Gefangenen-Odyssee nach der Befreiung von Auschwitz in »Die Atempause« – Schullektüre geworden. In einem Nachwort zu einem seiner schönsten Bücher, dem Roman »Das periodische System«, in dem jedes Kapitel nach einem chemischen Element benannt ist, schreibt die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg: »Primo Levis Stil ist knapp und heiter: Seine Kunst jedoch entspringt dem Schmerz. Der Schmerz ist ihr befruchtendes Moment.«