Schweigende Mehrheit?

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

Wolfgang Wippermanns Buch »Autobahn zum Mutterkreuz«

Mai-Juni 2008

Wolfgang Wippermann:
Autobahn zum Mutterkreuz. Historikerstreit der schweigenden Mehrheit, Rotbuch Verlag Berlin, 2008, 128 S., 9,90 Euro

»Sie sind ein Mann ohne ›Anstand‹ und ›Wertgefühl‹, ein ›Vergangenheitsbewältiger‹ und ›Volkspädagoge‹ mit einem ›68er-Syndrom‹, eine ›linke Ratte‹ und ›Stalins Mann in Berlin‹, ein ›Judenknecht‹ und ›Volksschädling‹. Diese und weitaus böswilligere und gefährlichere Beschimpfungen, ja ernst zu nehmende Bedrohungen, fand ich seit dem 9. Oktober 2007 in meiner Post und Mailbox zu Hause und an der Uni«, schreibt Wolfgang Wippermann in der Einleitung seines Buches »Autobahn zum Mutterkreuz. Historikerstreit der schweigenden Mehrheit«.

Der Berliner Geschichtswissenschaftler hatte an jenem 9. Oktober an einer Talkshow von Johannes B. Kerner teilgenommen. Es ging um die Buchveröffentlichungen und »wertkonservativen« familienpolitischen Thesen der NDR-Moderatorin Eva Herman. Neben der Autorin, dem Moderator Kerner und Wippermann waren die Schauspielerin Senta Berger, die ehemalige TV-Moderatorin Margarete Schreinemakers und der Komiker Mario Barth in der Talkrunde.

Den Verlauf, bei dem es schließlich zum Eklat kam, schildert Wippermann so: »Die Stimmung (wurde) immer gereizter vor allem, als Kerner wieder auf die NS-Zeit zu sprechen kam und Eva Herman eine Äußerung vorhielt, die in einer ähnlichen Form auch von dem NS-Ideologen Alfred Rosenberg gemacht worden ist. Darauf antwortete Eva Herman nicht, was sie nicht musste, denn der Vergleich war tatsächlich problematisch. Stattdessen wies sie auf die vielen ihr zustimmenden Briefe hin, deren Absender sich ganz anders artikulierten als die ›gleichgeschaltete Presse‹.«

Wippermann habe auf eine Frage Kerners bestätigt, dass »Gleichschaltung« ein »nationalsozialistisch belasteter Begriff« sei. Im Verlauf der weiteren Diskussion sagte Herman schließlich, bezogen auf den »Gleichschaltungs«-Begriff und das »Dritte Reich«, den Satz: »Natürlich ist er da benutzt worden, aber es sind auch Autobahnen damals gebaut worden, und wir fahren heute drauf.« Über das seit je bei NS-Apologeten beliebte Autobahn-Argument empörten sich die anderen Diskussionsteilnehmer; Kerner forderte schließlich Frau Herman zum Verlassen der Talkrunde auf.

Es folgte ein gewaltiger Medienwirbel, überwiegend wie Wippermann einschätzt eher wohlwollend gegenüber Eva Herman. Und es gab eine Flut von Zuschriften an den Sender, an Zeitungen und Zeitschriften, an die Diskussionsbeteiligten und eine Fülle von Meinungsäußerungen in verschiedenen Internetforen. Diese Briefe, Mails und Blogs nennt Wolfgang Wippermann einen »Historikerstreit der schweigenden Mehrheit«. Bezug nehmend auf die vor zwanzig Jahren von Ernst Nolte ausgelöste geschichtsrevisionistische Debatte schreibt Wippermann: »Am aktuellen Historikerstreit beteiligten sich aber keineswegs nur einige Historiker, Journalisten und sonstige Meinungsmacher, sondern Massen, die vermeintlich die ›Mehrheit des Volkes‹ vertraten: Sie taten das in einem neuen und bisher nicht gekannten Ausmaß.«

Die von Wippermann ausgewerteten Schreiben, die fließenden Übergänge von konservativen Wertungen zu faschistischen Statements, vor allem der ausgeprägte Antisemitismus in vielen dieser Beiträge sind ein deutliches Warnsignal. Und es ist das Verdienst des Autors, dass er uns damit konfrontiert und die Aussagen historisch und politisch einordnet.

Dennoch mag ich mich seiner Wertung, wir hätten es hier mit der »schweigenden Mehrheit« zu tun, nicht anschließen. Zu sehr erinnern mich die meisten dieser Texte an frühere Leserbriefkampagnen von ganz Rechts, die schon immer hervorragend funktionierten. Das macht die menschenverachtenden Stammtisch-Sätze nicht ungefährlicher, lässt aber nach wie vor demokratische Gegenwehr nicht hoffnungslos erscheinen.