Schwindsucht im Rechtsstaat

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Vor 60 Jahren in Bonn: Ja zum »Blitzgesetz« als »Waffe
im Kalten Krieg«

Juli-Aug. 2011

Die »politische Justiz gegen Kommunisten« beruht auf dem 1. Strafrechtsänderungsgesetz, »das im gleichen Jahr ergeht, als mit dem Gesetz zum Artikel 131 des Grundgesetzes die weitgehende Inkorporation des Staatsapparates der NS-Diktatur in den demokratischen Rechtsstaat weitgehend auf den Weg gebracht wird.«

(Joachim Perels in »Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime« Offizin-Verlag, Hannover 2004

Befund 2011

»Wer jede Kommunikation zwischen Menschen, jede Lebensäußerung überwachen und registrieren will, um mögliche Straftaten bereits weit im Vorfeld vereiteln zu können, greift den Kerngehalt der Grundrechte an.«

(Martin Kutscha, Prof. an der Hochschule für Wirtschafts- und Verwaltungsrecht Berlin am 23. Mai 2011 bei der Vorlegung des »Grundrechtsreports 2011« in Karlsruhe)

Dem französischen Kardinal und Staatsminister Richelieu (1582-1642) wird der Ausspruch nachgesagt, es gebe Verbrechen, »so schwer, dass man sie zuerst strafen und dann untersuchen muss«. Das »Verbrechen der Majestätsbeleidigung«, so der Kirchenfürst weiter, »ist so ungeheuerlich, dass man schon den Gedanken daran strafen muss«.

1936, runde 300 Jahre nach Richelieus Tod verkündeten die führenden Juristen des faschistischen Deutschland, Roland Freisler und Franz Gürtner: »Aus kraftvoller soldatischen Einstellung heraus kann das neue Strafrecht daher nur das Streben haben, so früh wie möglich und gleich mit aller Kraft vorzugehen.« Wiederum 24 Jahre später, als sich die junge Bundesrepublik mit den Bestimmungen des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes auf die »Höhe der Zeit« des Kalten Krieges erhob (»Die Welt«, 9. März 1950), sprach Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) im Bundestag von erforderlicher »Präventionsrepression«. Die habe, so der langjährige Generalbundesanwalt Max Güde, der Minister »bezeichnenderweise mit Bildern aus dem militärischen Bereich zu veranschaulichen gesucht: Es gelte den Feind im Glacis, im Vorfeld, in der Annäherung an sein Angriffsziel zu stellen und unschädlich zu machen (…).« Der »Feind«, um den es vor 60 Jahren im Bundestag gegangen war, das waren wie 1936 vornan die Kommunisten und alle, die im Ruche standen, mit ihnen einer Meinung zu sein. Am 9. Juli 1951 stimmte der Rechtsausschuss des Bundestages dem Gesetzentwurf des »1.Strafrechtsänderungsgesetzes« zu, den die Bundesregierung bereits sechs Monate nach ihrer Konstituierung im September 1950 den zuständigen Gremien zugeleitet hatte. Nach der ersten Lesung am 12. September ging er in den Rechtsausschuss und wurde dort von allen »anrüchigen« Delikten wie »Friedensverrat«, »Verächtlichmachung von Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime« oder »Verwendung von nationalsozialistischen Kennzeichen« gesäubert. So ging es, unter Federführung des Ministerialdirigenten im Bundesjustizministerium Dr. Josef Schafheutle, vordem als Sachbearbeiter im faschistischen Reichsjustizministerium mit der Ausarbeitung von Sondergesetzen gegen Regimegegner befasst, an die Endfassung des Gesetzes. Eines Gesetzes, über das der Staatsrechtler Alexander von Brünneck befand: »Politisch war das 1. Strafrechtsänderungsgesetz von 1951 eindeutig und ausschließlich gegen die Kommunisten gerichtet (…) Das neue politische Strafrecht kriminalisierte auch solche politische Betätigungen von Kommunisten, die nur möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt eine Gefahr für den Staat heraufbeschwören könnten (…)«. So auf die »Höhe der Zeit« gebracht, verabschiedete der Bundestag am 9. und 11. Juli das »Blitzgesetz«, diese »Waffe, die geschmiedet wurde, um im Kalten Krieg zu bestehen« (CDU-MdB Haasler am 8. Februar 1957 im Bundestag). Dagegen stimmten nur die Fraktion der KPD und einige wenige andere Abgeordnete. Das Gesetz trat am 30. August 1951 in Kraft.

Der Rechtsstaat Bundesrepublik verlagerte die »geistige Auseinandersetzung« mit seinen Gegnern, die »Gesinnungsorientierte Vorverlegung des Staatsschutzes«, vor allem nach dem KPD-Verbot vom August 1956, in den Gerichtssaal. Zur Exekutierung wurde ein Netz von politischen Sonderstrafkammern geschaffen, besetzt zum großen Teil mit Richtern und Staatsanwälten, die »schon in der NS-Zeit politische Gegner in Gefängnisse, Konzentrationslager oder vor Hinrichtungskommandos gebracht hatten« (Marc von Miquel).10.000 Verurteilungen zu Gefängnis- und Zuchthaustrafen waren von 1951 bis 1968 auf der Grundlage dieses Gesetzes gefällt worden. Keines ist aufgehoben, keiner der Verurteilten ist bis heute rehabilitiert.

In der 191. Sitzung des Bundestages am 7. Februar 1957 offenbarte der SPD-Abgeordnete Adolf Arndt bei der Diskussion des 4. Strafrechtsänderungsgesetzes, dass ihn ob seiner Mitwirkung am Gesetz von 1951 »als Nachlass-Schuld des alten Krieges« sein »Gewissen drückt«. Demonstriert werde hier »der klinische Befund einer geistigen Tuberkulose, einer Schwindsucht im rechtsstaatlichen Bewusstein«. Die Diagnose gilt auch im Jahr 2011.