Sie wurden sofort vergast

geschrieben von Die Fragen stellte Regina Girod

5. September 2013

antifa-Gespräch mit Kurt Gutmann, Nebenkläger im
Demjanuk-Prozess

Jan.-Feb. 2010

Kurt Gutmann hat 1990 den Bund der Antifaschisten in den neuen Bundesländern mitbegründet und war viele Jahre Vorsitzender des Kreisverbandes Berlin Friedrichshain

antifa: Du trittst als einziger Deutscher im Demjanjuk-Prozess in München als Nebenkläger auf. Deine Mutter und dein älterer Bruder wurden in Sobibor ermordet. Wie hast du überlebt?

Kurt Gutmann: Meine Mutter hat mich noch 1939 mit einem Kindertransport nach Schottland schicken können, da war ich zwölf Jahre. Ich habe noch ein oder zwei Karten vom Roten Kreuz als Lebenszeichen von ihr bekommen. Danach habe ich nie wieder etwas von meinem Bruder und ihr gehört. Beide wurden aus Mühlheim an der Ruhr in das Ghettostädtchen Izbica in Ostpolen deportiert. Mein Bruder, der damals 21 war, sollte eigentlich noch nicht mit auf Transport, er war Zwangsarbeiter auf dem Bau. Doch er wollte meine Mutter nicht allein lassen. Bei der Auflösung des Ghettos sind sie im April 1943 nach Sobibor gebracht worden. Dort wurden sie gleich vergast.

antifa: Wie hast du das erfahren?

Kurt Gutmann: Ich habe immer versucht, etwas über das Schicksal meiner Familie zu erfahren. Lange habe ich gedacht, sie wären in Auschwitz ermordet worden. Ich war mehrere Male in Auschwitz und habe dort nach Unterlagen gesucht, aber nichts gefunden. 1996 bekam ich den Tipp, dass es im Bundesarchiv Deportationslisten gibt. Da habe ich sie dann gefunden.

antifa: Bist du selbst einmal in Sobobor gewesen?

Kurt Gutmann: Ja, ich war zwei mal in Izbica und in Sobibor, mit Jugendlichen von der Antifa aus meinem Stadtbezirk.

antifa: Wie wird man Nebenkläger in einem solchen Prozess?

Kurt Gutmann: Als ich von dem Prozess hörte, habe ich mich gemeldet. Wir sind mehr als zwanzig, die die Interessen der Opfer vertreten. Einer von uns, ein Belgier, hat das Lager selbst als Jugendlicher überlebt. Dass so viele Belgier dabei sind, hat damit zu tun, dass eine Zeit lang die jüdischen Häftlinge aus Westerborg zur Vernichtung nach Sobibor verschleppt wurden. Es sind aber auch Israelis und US-Bürger unter uns. Die meisten Nebenkläger wurden als kleine Kinder von holländischen Menschen gerettet. Ein Zeuge berichtete, dass seine Eltern ihn in einem Koffer über die Mauer geworfen haben, bevor sie deportiert wurden.

antifa: Wie wirkt der Angeklagte Demjanjuk auf dich?

Kurt Gutmann: Ich glaube, er zieht alle Register. Im Prozess liegt er teilnahmslos auf seiner Bahre, aber im Gefängnis, hört man, läuft er herum. Er hat sich aus den USA einen russisch-orthodoxen Priester kommen lassen, der fordert in Interviews, man solle dem alten Mann doch vergeben. Das ukrainische Fernsehen hat mich gefragt, was ich dazu meine, ich habe gesagt: »So etwas kann man nicht vergeben!« Sobibor war ein reines Vernichtungslager. In einem Jahr sind dort mindestens 250.000 Menschen ermordet worden. Demjanjuk selbst wird vorgeworfen, an der Ermordung von mindestens 30.000 Juden beteiligt gewesen zu sein. Wenn seine Schuld nachgewiesen wird, dann muss er auch verurteilt werden. Es geht mir nicht darum, einen alten Mann, der nicht mehr lange leben wird, im Gefängnis zu sehen. Ich möchte wenigstens ein Stück Gerechtigkeit für die Opfer.

antifa: Demjanjuks Verteidiger argumentiert, dass hier ein spätes Exempel statuiert werden soll, noch dazu an einem Ukrainer, während jahrzehntelang Täter, die viel mehr Schuld auf sich geladen haben unbehelligt blieben. Wenn es überhaupt zu Prozessen kam, wurden die Angeklagten meist freigesprochen.

Kurt Gutmann: Das ist wirklich zwiespältig. Ich bedaure, dass es erst so spät zu diese Prozess gekommen ist. Doch in der alten Bundesrepublik fehlte lange der politische Willen, die Untaten der Nazis zu sühnen. Viel zu lange. Wenn man allein bedenkt, wie spät der Auschwitz-Prozess möglich wurde. Gerade deshalb finde ich es wichtig, dass wenigstens jetzt ein Zeichen gesetzt wird dafür, dass das Recht für alle gilt. Es gibt ja noch mehr Nazitäter, die bis heute in Deutschland frei herumlaufen, denen nie ein Prozess gemacht wurde. Es müssten noch mehr Prozesse auf diesen folgen. Historiker haben vor Gericht nachgewiesen, dass es den Ukrainern, die in Sobibor als Freiwillige mitgemacht haben, sehr wohl möglich war, abzuhauen. Andere haben das getan. Demjanjuk offenbar nicht.

antifa: Du fährst zu jedem Prozesstag von Berlin nach München. Was dort im Gerichtssaal zur Sprache kommt, muss doch sehr belastend für dich sein. Warum nimmst du das auf dich?

Kurt Gutmann: Das stimmt, das Ganze ist sehr bedrückend. Meine Frau hatte Angst, das ich das Verfahren nicht überstehe. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ich habe mich mein ganzes Leben gefragt, wie solche Verbrechen überhaupt möglich wurden. Und warum ich überlebt habe. Jetzt zu erleben, dass dieses entsetzliche Unrecht auch als solches behandelt wird, zu sehen, dass da jemand zur Verantwortung gezogen wird, ist schon eine Art Befreiung. Am Wichtigsten ist aber für mich, dass junge Menschen, für die das ja weit entfernte Geschichte ist, auf diese Weise etwas über das erfahren, was unser ganzes Leben überschattet hat.