Trügerische Idylle

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

»Die Geige von Cervarolo« erzählt von einem Massaker und
einem Prozess

Jan.-Feb. 2013

Näheres zur DVD »Il Violino di Cervarolo« (»Die Geige aus Cervarolo«), zu Inhalten, Bezugsquellen und Internet-Links unter: http://www.popcultdocs.com/violino_german.html

Im Spätherbst 2012 fanden, veranstaltet von verschiedenen antifaschistischen Initiativen und Organisationen, darunter mancherorts auch die VVN-BdA, mit den Filmemachern und anderen Beteiligten an der Dokumentation, meist sehr gut besuchte öffentliche Vorführungen des Filmes in Hamburg, Osnabrück, Kiel, München, Nürnberg und Berlin statt. Die Auswahl der Aufführungsorte war auch als politische Demonstration gedacht, da in diesen Orten oder deren Umgebung nach wie vor in Italien verurteilte Mittäter am Massaker von Cervarolo leben, die sich bis heute einer Strafverfolgung entziehen konnten.

Eine blühende Wiese, dezentes Gegacker, pickende Hühner an einer Hofmauer, ein fröhlich plätschernder Bach. Ins Bild rückt ein kleiner Ort, eine Kirche, freistehende Häuser in hügeliger Landschaft, im Hintergrund höhere Berge. Sonnig-südlich, mittäglich-ruhig, ein Blumentrog an einer stillen Straße, eine offene Kapelle, daneben ein Betonmischer. In der deutsch untertitelten Fassung der italienischen DVD wird nun auf dunklem Hintergrund eingeblendet: »Cervarolo, Gemeinde Villa Minozzo /Die Berge des Appenin in der Provinz Reggio Emilia / Spätsommer 2010«. Wir sind im Dokumentarfilm »Il violino da Cervarolo« (»Die Geige aus Cervarolo«).

Noch vor dem Vorspann führt uns die Kamera ins Innere eines Hauses voller »Antiquitäten«. Kurz rückt ein Schränkchen mit Glastür ins Bild, darin eine Geige. Telefongedüdel, eine Hand greift nach dem Apparat. Dann eine freundliche Männerstimme: »Ciao Natalina«. Vor dem Mann auf dem Tisch liegen dicke Gesetzestexte und eine historische Dokumentation, von deren Umschlag kurz das Wort »nazifascista« aufscheint. An der Zimmerwand ein juristisches Diplom für einen Italo Rovali. »Mach dir keine Sorgen«, antwortet – so der deutsche Untertitel – der Mann der Anrufenden. Wir sehen jetzt sein Gesicht. »Es gibt einen Bus. Ihr werdet bis vor die Tür gebracht, wir werden alle zusammen sein…«

Italo Rovali, den wir gerade gezeigt bekamen, ist Jurist, stammt aus Cervarolo und bleibt die »Hauptfigur« im Film. »Wenn du in den Sitzungssaal kommst«, setzt er das Gespräch fort, »musst du einfach nur die Fragen beantworten, die wir und der Staatsanwalt und die anderen Anwälte dir stellen. Antworte gemäß der Tatsachen, die du kennst. Wenn wir Fotos mit dem Dreschplatz, oder mit der Straße aus Richtung Calcinara oder Ca’Cianicca vorführen, dann werden wir dich fragen: Erkennen Sie dieses Foto? Du sagst, was du weißt, du kannst dir Zeit lassen und bleib ruhig. Wir werden dich als erste vernehmen, damit du dich dann nicht mehr aufregen musst. Und danach gehst du und besichtigst die Arena in Verona. Ok?«.

Am 20. März 1944 wurden nächste Angehörige von Italo Rovali wie viele andere Familien, die in Cervarolo lebten, Opfer eines Massakers. Verübt hatten es, mit Hilfe italienischer faschistischer Milizen und Polizei, Offiziere und Soldaten der deutschen Fallschirm-Panzer-Division Herrmann Göring. Es ging um »Partisanenbekämpfung« – und Cervarolo war im Frühjahr 1944 nicht der einzige Ort in dieser Region, in dem deutsche Truppen marodierten und Zivilisten ermordeten. Im Laufe des Films lernen wir die Hinterbliebenen aus Cervarolo kennen. Bejahrte Frauen und Männer zumeist, die als Kinder bei der Zerstörung ihres Dorfes und der Ermordung ihrer Väter und Brüder zusehen mussten und selbst oft nur mit viel Glück überlebten.

Und wir lernen auch sehr schnell, wie Bilder trügen können: die einleitenden Kamerafahrten über die idyllische Appeninenlandschaft mit Kirche und eingestreuten Wohngebäuden und deren behagliche Anmutung von ruralem »Immer-schon-Dagewesenen«. Ganz falsch – nach dem 20. März 1944 hatte es dort nur noch rauchende Trümmer gegeben. Und mühselig hatten die Überlebenden im Lauf der folgenden Jahre und Jahrzehnte dann wieder ihr Dorf aufgebaut. Geschwärzte Mauersteine und verkohlte Deckenbalken fanden Wiederverwendung.

Dreh- und Angelpunkte der Filmgeschichte sind die Gerichtsverhandlung vor dem Militärgerichtshof in Verona, in der es tatsächlich zur Verurteilung der damaligen Haupttäter aus Deutschland kommt und – lange währt es und steigert die Spannung – die Sache mit jener Geige von Italo Rovalis Vater, die, gut versteckt, die Brandschatzungen überstand und schließlich überraschend wieder auftauchte. Der Film lebt vom Verbinden ganz normaler alltäglicher Verrichtungen der Beteiligten mit der Aufarbeitung historischer Ungeheuerlichkeiten, die noch kaum vergangen sind.

Die reale Geschichte, die erzählt wird, bezieht daraus, ganz unprätentiös, gewaltige Fallhöhen. Beim Verlesen der Anklageschrift etwa, beim Hinweis auf die sämtlich abwesenden noch in Deutschland lebenden Angeklagten. Hier ganz besonders beim Bericht eines italienischen Ermittlers, der vor Ort mit diesen gesprochen hat. Und der sichtlich erschüttert die fehlende »Reuebereitschaft« der einstigen Täter erwähnt. Eine »Gehirnwäsche« sieht er am Werk, die bis heute anhalte.

»Italo Rovali aus Cervarolo (…) verliert bei dem Massaker seinen Großvater und seinen Onkel, während sein Vater in einem deutschen Arbeitslager überlebt.«, schreiben die Filmemacher, Nico Guidetti und Matthias Durchfeld, auf der Homepage ihres Verleihs in einer »Regiebemerkung«. »Italo hat immer gesagt, dass er während seines Jurastudiums von diesen Fragen gequält wurde: Kann es sein, dass man die Täter dieses Massakers wirklich nicht identifizieren kann? 2005 beginnt Italo eine langjährige Nachforschung um die Fakten mit den letzten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen zu rekonstruieren (…) Dank Italo Rovali wurde ein Prozess eröffnet, kam es zur Wahrheitsfindung und zum Urteilsspruch.«

Davon – und wie sich damit die Geschichte von der »Geige aus Cevarolo« verbinden hat lassen – handelt der Text der Regisseure. Vom Gelingen dieses Projektes der Film.