Über den Sinn von Jahrestagen

geschrieben von Kurt Pätzold

5. September 2013

Das Geschichtsbild des 20. Jahrhunderts soll neu gezeichnet werden

Nov.-Dez. 2012

Schon flattern einem, der des Verdachts verdächtig ist, die ersten Einladungen zu Veranstaltungen in den Briefkasten, die sich an die im Jahr 2013 bevorstehenden 80. Jahrestage knüpfen sollen. Die Liste ist lang und beginnt noch vor dem Tage, da Hitler triumphierend in die Reichskanzlei einzog, mit jenem am 4. Januar 1933 stattgefundenen, geheim gehaltenen, aber doch bekannt gewordenen Treffen mit Franz von Papen, einem ihm im Jahr zuvor noch als Konkurrent, Widersacher, Erzfeind, Aristokrat usw. geltenden Politiker. Es verständigten sich da der Kanzler und der Vizekanzler in spe. Ereignis in einer umfassenderen Intrige gegen die Republik.

Und dann setzt sich die Reihe dicht fort: Reichstagsbrand, Errichtung de Konzentrationslager, Illegalisierung der Kommunisten, »Tag von Potsdam«, Ermächtigungsgesetz, Großaktion der Judenfeinde, demagogische 1. Mai-Kundgebungen, Verbot der Gewerkschaften, dann der Sozialdemokratie, Auflösung der bürgerlichen Parteien, Erklärung des »Endes der nationalsozialistischen Revolution«.

Es jagten sich die Ereignisse und nun die Jahrestage. Und da wären wir erst im Juli dieses Jahres des Unheils. Und hätten ein paar noch ausgelassen, an die sich manch nützlicher Gedanke knüpfen ließe. Als da wären: die Erklärung der katholischen Bischöfe zur neuen Situation, die erste außenpolitische abgrundtief verlogene Rede Hitlers vor dem Reichstag, die Verlautbarung des Reichsverbandes der deutschen Industrie über seine Haltung zu den neuen Machthabern, das mit dem Vatikan geschlossene Reichskonkordat.

Das ergäbe ein Programm, das kein Rentner-Geschichtsverein bewältigen könnte, denn der dürfte zudem ein paar andere »Jubiläen« nicht übergehen, vor allem die Zweihundertsten. als da wären: der Aufruf des Preußenkönigs Friedrich Wilhelms III. vom März 1813, der sich seines Volkes entsann, die Stiftung des Eisernen Kreuzes durch denselben und die Order, künftig auch der toten Muschkoten in Kirchen zu gedenken, sodann die Schlachten, die an der Katzbach und die bei Leipzig vor allem, die Taten de Lützower usw. Da fällt einem die Arie des Bartolo aus dem Barbier von Sevilla ein. Dazu Fragen: Muss das sein? Und wenn ja, warum und wie viel davon?

Was wir momentan erleben, sind Anstrengungen zum Umschreiben der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Nun wäre das für sich der Rede nicht wert, denn an Bildern der Vergangenheit ist noch stets gebastelt worden. Diesmal hat es damit seine eigene Bewandtnis: Gesucht wird eine Endlösung des Jahrhundertbildes. Dessen Konturen sind gezeichnet: Demnach führte der Weg jedenfalls in unseren historischen Breiten (und das zum eben sich entfaltenden weltweiten Nutzen) hinweg über zwei Diktaturen, die faschistische (neudeutsch stets: nationalsozialistische) und die kommunistische, in Zustände der Freiheit, des Rechts und der Gerechtigkeit. Die sind, sonst würde es uns gar langweilig, verbesserungswürdig und -fähig. Doch der Grundstein, nein mehr: das Fundament ist gelegt, fest und unverrückbar.

Dieses Konstrukt ist so etwas wie der geistige Knüppel, der jedem droht, der über die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände und deren Herkunft anderer Meinung ist und sich immer noch von dem Gedanken an einen Um- und Neubau nicht losgesagt hat. Jedem, d. h. jedem, der von einer Gesellschaft nicht nur im Geheimen träumt, die kein Massenelend, kein Massensterben, nicht massenhafte Unwissenheit, die Beteiligung des Volkes nicht nur als Phrase und Trick kennt und in der es keine Faschisten gibt und auch niemanden, der Kriege anzettelt und rechtfertigt.

In solcher Lage verspricht ein ungetrübter Blick zurück in das Jahr 1933 Gewinn und ebenso das erneute Nachdenken darüber, welchen Platz das damals errichtete diktatorische System in Wahrheit in der Geschichte des 20. Jahrhunderts einnahm, welche Spur es weit über die zwölf Jahre seiner Existenz in die deutsche, europäische und Weltgeschichte zog und wie das so steht, mit der viel berufenen, dabei meist undefinierten »Bewältigung der deutschen Vergangenheit«. Es ließe sich das Nachdenken darüber bis zu der Frage treiben, ob diejenigen, die heute in Staat und Gesellschaft herrschen, das nicht unter partieller Verwendung von Erfahrungen aus jenem gemeinhin als »dunkelstem Kapitel deutsche Geschichte« verdunkelten Zeitraum tun, und ob diejenigen, die beherrscht werden, sich vielleicht nicht deshalb so dirigieren lassen, weil sie sich in vielem nicht anders verhalten als ihre Vorfahren, die »Volksgenossen«.