Umgedreht und ausgelöscht

geschrieben von Peter Scherer

5. September 2013

Das Ende der Gewerkschaften am 2. Mai 1933

März-April 2013

Zerschlagung von Arbeiterorganisationen, Verbot und Verhaftung, Schikane und Mord sind leider in fast jedem Jahrzehnt zu finden, wenn wir die Geschichte weltweit betrachten. Wohl einmalig aber ist der Vorgang, dass nach Millionen Mitgliedern zählende Gewerkschaften unter der Fahne ihrer grimmigsten Gegner mit Blasmusik am Montag durch die Straßen geführt und am Dienstag politisch ausgelöscht werden.

Der Sozialdemokrat Julius Leber befand sich damals schon in Untersuchungshaft in Lübeck. »Welch eine Heuchelei …«, schrieb er in sein Tagebuch, als er am 30.April davon erfuhr, dass die Nazis den 1.Mai zum Nationalfeiertag erklärt hatten. Er durchschaute den Zwangscharakter des Aufmarsches. Am 4.Mai schrieb er bitter: »Nun haben sie die Gewerkschaften auch hinübergeholt. Wie viele Tausend mit den Zähnen geknirscht haben? Aber die Bürokratisierung hat die Gewerkschaften seit Jahren völlig arbeitsunfähig gemacht und leider Gottes teilweise auch die Partei.« Die »Bürokratisierung« war es nicht allein.

Zwei namentlich gekennzeichnete Artikel des ADGB-Organs »Gewerkschafts-Zeitung« hatten sich schon am 22. April 1933 dem kühnen Versuch gewidmet, für die bis dahin sozialdemokratisch geführten Verbände einen Platz im faschistischen Staat zu definieren. Historisch gewachsene Bindungen sollten gelöst werden, denn der »Industriearbeiter und seine Geisteswelt« seien belastet mit den »Traditionen des absinkenden bürgerlichen Systems«. Die soziale Frage habe aufgehört, eine solche der industriellen Lohnarbeiter zu sein. Jenseits der Arbeiterklasse habe sich als »Stand wahrer Hoffnungslosigkeit« das Millionenheer der Arbeitslosen gebildet. Mehr noch: »Die Nation selbst wurde zur ‚Proletarierklasse’«.

Die gleiche Ausgabe enthält eine wohl lange hin- und her gewendete Anmerkung, halb Distanzierung halb Annäherung: »Es ist erklärlich, dass die Wendung der Dinge seit dem 5. März (der Reichstagswahl), dass namentlich aber die Erhebung der Maifeier zum Volksfeiertag durch den Entschluss der Reichsregierung in den Kreisen der Arbeiterbewegung, besonders der jüngeren Generation, Anlass zu Betrachtungen über die Stellung zu dem nationalsozialistischen Regime bietet.«

Man könnte über den fein gedrechselten Artikeln der »Gewerkschafts-Zeitung« fast vergessen, dass seit dem Reichtagsbrand am 27. Februar 1933 ein beispielloser Terror Deutschland überrollte, dass am 1. April die Boykottaktion gegen die Juden stattgefunden hatte, dass über 40 Gewerkschaftshäuser bereits besetzt waren, dass ein KZ nach dem anderen seine Tore weit öffnete. Man teilte die »Gründung« eines Konzentrationslagers damals noch offen in der Zeitung mit, und es gab noch Idealisten wie den Polizeioberleutnant Müller, der aus dem KZ Moringen am 28. April 1933 diensteifrig an das Regierungspräsidium meldete: »Ich beabsichtige, am 1.Mai, dem Tag der nationalen Arbeit, einen Teil der Insassen (etwa 100) an der Kundgebung der Stadt Moringen unter Bewachung teilnehmen zu lassen.« 90 Prozent der Häftlinge hätten sich zur Teilnahme gemeldet.

Die Selbsttäuschung der ADGB-Führung, gemeinsam mit der faschistischen Bewegung auf einen Ständestaat unter maßgeblicher Beteiligung der Gewerkschaften hinarbeiten zu können, dauerte nur wenige Tage. Der unterstellte Verhandlungsspielraum existierte in Wirklichkeit nicht. Und doch war das Angebot mehr als eine Verzweiflungstat.

Gewerkschaften sind keine Glaubensgemeinschaften, die ihre Mitglieder auf weit entfernte Zeithorizonte vertrösten können. Sie sind die erfolgreichen Makler auf dem Markt der Arbeit oder sie sind nichts. Der Pakt mit dem Teufel ist ihnen gleich neben die Wiege gelegt. Ihre Abneigung gegen jedwede soziale Projektemacherei, gegen Idealismen und Utopien ist in ihrer Funktion begründet. Aus ihr resultiert auch das Grundgefühl, mit den Trägern der Macht ins Geschäft kommen zu müssen und zu können, gleichgültig wie sich diese Macht legitimiert. Sie müssen am Ende einen Vertrag abschließen, und es ist ihre Tragik, dass ihr Gegenüber nur auf eine Gelegenheit wartet, sich des lästigen Partners zu entledigen.