Unangenehme Opfer

geschrieben von Thomas Willms

5. September 2013

Neue Graphic Novels über Auswirkungen der NS-Verfolgung

Sept.-Okt. 2012

Der Boxer von Reinhard Kleist.Carlsen Verlag, Hamburg 2012, 176 S., 16,90 Euro

Rosa Winkel von Michel Dufranne, Milorad Vicanovic. Verlag Jacoby & Stuart, 144 Seiten, 18 Euro

Was die beiden Verfolgten des Naziregimes, Hauptfiguren der zu besprechenden Graphic Novels »Der Boxer« und »Rosa Winkel«, zunächst gemeinsam haben, ist ihre Unausstehlichkeit. Jeweils in einer Rahmenhandlung treffen der Sohn, bzw. Urenkel auf die ehemaligen Häftlinge und stoßen auf Verschlossenheit, Aggressivität und allgemeine Übellaunigkeit. Sie sind Beispiele misslungenen innerfamiliären Kontakts, deren Ursachen nicht nur in den KZ-Erfahrungen liegen, sondern vielleicht noch mehr in den Nachkriegserfahrungen. Der Homosexuelle wie der Boxer aus dem KZ finden keine Auffangstation, keine Gemeinschaft im engeren Sinne von Häftlingsgemeinschaft oder Partei oder im weiteren Sinne von Weltanschauung oder Nation. Sie bleiben außen vor.

Die fiktive Gestalt des schwulen »Andreas Müller« hat mit Politik eigentlich nichts am Hut. Er lebt im liberalen Berlin Anfang der 30er gar nicht so schlecht. Er verdient ordentlich als Grafiker, sieht gut aus und ist noch besser gekleidet. Ein bisschen Leichtsinn ist auch dabei, der § 175 stellt keine konkrete Bedrohung dar. Der Freundeskreis nimmt den 30. Januar 1933 hin, so schlimm wird es wohl nicht werden, dafür wird der warme Bruder Ernst Röhm von der SA schon sorgen. Der Abstieg beginnt langsam, die Handlungsspielräume werden geringer, Auswanderung wird erwogen und verworfen. Die ersten Verhöre sind noch erträglich, aber dann wird denunziert, verhaftetet, geschlagen und der Wille gebrochen. Das überlässt man den kriminellen Mithäftlingen im Gefängnis, am Ende steht der Terror in Sachsenhausen und Neuengamme und auch dort ist nur das unterste Ende der Häftlingshierarchie frei. Die Rückkehr hält die ultimativen Demütigungen bereit, in der es Entschädigungen nur für die »echten Opfer« gibt. Der § 175 behält seine Wirkungsmächtigkeit, Andreas flieht nach Frankreich, um in der Anonymität unterzutauchen. Und auch dort werden die verfolgten Schwulen jahrzehntelang ausgegrenzt, sogar von den Verfolgtenverbänden. Die gesellschaftliche Anerkennung durch den Staatspräsidenten im Jahr 2005 kommt für ihn zu spät.

Die französischen Autoren von »Rosa Winkel« bereiten das Thema Homosexuellenverfolgung im deutschen Faschismus für ein ganz unwissendes Publikum auf. Das macht den Band zu einem hervorragenden Einstieg, auch wenn er im Bemühen alles abzudecken, thematisch leicht überladen wirkt.

Die Figur des feingeistigen Berliners Andreas könnte von der Hauptfigur aus »Der Boxer« kaum weiter entfernt sein. Der junge polnische Jude Hertzko Haft ist von Haus aus der Typ »Rüpel«. Für Probleme gibt es ja die Faust als Lösung, Regeln sind zum Brechen da und Chuzpe hat man sowieso. Er schafft es, sich für einzelne seiner Bewacher in den Lagern nützlich zu machen, bis er zum Element perverser Gladiatorenspiele wird. Häftlinge müssen gegeneinander boxen, der Sieger darf weiterleben. Mit Glück, Mut, Entschlusskraft und Gewalt kann er sich beim Todesmarsch freikämpfen. Sein neues Leben nach den Nazis setzt er in den USA fort, um das, was er im Lager gelernt hat, zum Beruf zu machen. Als ein Berg von Mann wird er zum gefeierten Schwergewichtsboxer, bis ihn die Boxmafia (so sieht er es) oder die Erinnerungen an die Kämpfe um Leben und Tod im Lager (so der Autor), zu Fall bringen.

Der Vater Hertzko Haft versprach seinem Sohn Alan Haft, ihm eines Tages »alles zu erzählen«. Das tat er auch, sechs Jahrzehnte nach den Erlebnissen. Alan Haft machte daraus 2003 die Biografie »Harry Haft. Auschwitz Survivor, Challenger of Rocky Marciano«, den der deutsche Comic-Künstler Reinhard Kleist in eine gefeierte gezeichnete Biografie umsetzte. Ganz klassisch erschien sie 2011 zunächst als Fortsetzungsgeschichte in der FAZ und ist damit einem sehr großem Leserkreis bekanntgemacht worden.

Hertzkos und Andreas Geschichten machen es heutigen Lesern nicht leicht. Unsere moralischen Maßstäbe, die wir für selbstverständlich halten, werden in Frage gestellt. Man erlebt, dass der Schläger bei weitem besser für die hereinbrechende Gewalt gewappnet ist. Ohne den Rückhalt einer Gemeinschaft, den beide nicht haben, bleibt nur aktive und fintenreiche Gerissenheit, mit der sich Hertzko die einzige Überlebensperspektive erarbeitet, die sich bietet: als SS-Maskottchen.