Unmenschlich und ungerecht

geschrieben von Werner Baumgarten

5. September 2013

Am 18. Juli kippte das Bundesverfassungsgericht das
Asylbewerberleistungsgesetz

Sept.-Okt. 2012

Werner Baumgarten studierte Theologie und Germanistik, war 1986 Sprecher und Mitbegründer des AK ASYL Stuttgart und 1988 bis 2001 Sprecher des AK ASYL Baden-Württemberg. Seit 1991 ist er Asylpfarrer in Stuttgart.

Als das Asylbewerberleistungsgesetz im Jahr 1993 beschlossen wurde, haben wir in der Flüchtlingsszene mit einer spektakulären Protestaktion und einem Riesenplakat »Esspakete verletzen die Menschenwürde« auf dem Stuttgarter Karlsplatz gegenüber dem Innenministerium reagiert, haben Luftballone mit Hilferuf-Karten in den Himmel steigen lassen, haben Abgeordnete auf dem Weg zum Landtag abgepasst und sie umfassend über das Kleingedruckte informiert, haben mit der damaligen Grünen Oppositionspartei im Landtag eine Pressekonferenz abgehalten und die ersten Original-Esspakete plastisch und drastisch vorgeführt. Alle waren geschockt, betroffen und fanden diese von Bürokraten zusammengestellten Waren nicht geeignet für heterogen geprägte Menschen aus aller Herren Länder. Jeder konnte sehen, wie kulturelle und religiöse Besonderheiten ignoriert wurden.

Keiner konnte jetzt noch sagen, er habe nicht gewusst, was hier mit politisch verfolgten Menschen aus Krisenregionen passiert. Und wir Engagierten konnten uns damals nicht vorstellen, dass dieses harte Anti-Flüchtlinge-Zermürbung-Gesetz fast 19 Jahre überstehen würde, den Regierungswechsel zu rot-grün, die große Koalition und die jetzige schwarz-gelbe Koalition, alle jeweiligen Machtkonstellationen im Bund hat dieses Gesetz überdauert.

Zwei Jahrzehnte haben wir uns gegen diese Abschreckungsmassnahme den Mund vergeblich fusselig geredet. Kein Argument der Humanität überzeugte, kein Verweis auf das Kindeswohl zog, kein Erläutern der Unverhältnismäßigkeit stimmte um, dass die Sachleistungen und das Taschengeld wenigstens an die gestiegenen Preise und Lebenshaltungskosten angepasst werden.

Es spricht Bände: Nicht die Einsicht der Politik, sondern erst die Vorgabe der Bundesverfassungsrichter, Menschenwürde sei unteilbar, hat die lang ersehnte Wende gebracht. Die Richter dekretierten: »Die Menschenwürde kann nicht differenziert werden aus einem migrationspolitischen Interesse heraus«.

Wir haben leider viel zu viele Flüchtlinge kennen gelernt, die an diesen Restriktionen zerbrochen sind, die banale Rechnungen fürs tägliche Leben nicht zahlen konnten und in negative Abwärtsspiralen gerieten. Die Verletzung der Residenzpflicht und fehlende Fahrkarten waren häufig Auslöser für Kriminalisierung und Überschuldung. Deshalb war nach dem Karlsruher Urteil die Auflockerung der Residenzpflicht im Februar die zweite große positive Überraschung für Asylsuchende in Baden-Württemberg.

Flüchtlinge dürfen sich jetzt zumindest in unserem Bundesland frei bewegen. Für unseren jährlichen Protestausflug mit mehr als zweihundert Flüchtlingen gegen die Residenzpflicht nach Worms in Rheinland-Pfalz benötigten wir aber immer noch eine Genehmigung.

Viel zu viele unserer Spendengelder sind in den letzten Jahren geflossen, um die schlimmsten Härten abzufedern. Vor allem wegen der Finanzierung von Monatsfahrkarten wurden wir bedrängt. Die Stuttgarter Straßenbahnen und der Gemeinderat nahmen es stillschweigend hin, dass Flüchtlinge sich die günstigste Zweizonenmonatsfahrkarte für 40,40 Euro nicht leisten konnten und provozierten so ein Fahren ohne Ticket.

Entsprechend hält sich die Freude der Politik und der Verwaltung über das Karlsruher Urteil in Grenzen. Wir haben kein Wort des Bedauerns gehört, dass man zwei Jahrzehnte lang verfassungswidrig gehandelt und eh schon vom Schicksal schwer gebeutelte Menschen unnötig schikaniert und gequält hat.

Was wir hören, sind larmoyante Klagen über die nun zu erwartenden Zusatzkosten von mehr als einer Million allein für die Stadt Stuttgart.

»Dessen ungeachtet haben sich die Bundesländer nach Angaben von Rheinland-Pfalz auf eine bundesweit einheitliche Erhöhung für Asylbewerber geeinigt. Alleinstehende oder allein erziehende Erwachsene sollen künftig 346 Euro pro Monat statt bisher 225 Euro erhalten. Das teilte die rheinland-pfälzische Integrationsministerin Irene Alt (Grüne) am Dienstag in Mainz mit. Das ist eine Steigerung um rund die Hälfte. Jugendliche über 15 Jahre sollen 271 Euro bekommen. Die Sätze orientieren sich an den Hartz-IV-Leistungen. Damit reagieren die Länder auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Juli entschied, dass Asylbewerber mehr Geld bekommen müssen.« (dpa)

Weil das Arbeitsverbot von 12 auf 9 Monate gesenkt wurde, können viele arbeitsfähige und arbeitswillige Asylsuchende sich selbst versorgen. Würde das Arbeitsverbot ganz fallen, hätten zumindest in strukturstarken Gegenden wie dem mittleren Neckarraum viele Flüchtlinge realistische Chancen auf eine Arbeitsstelle. Statt Kosten zu verursachen, würden sie durch ihre Steuern der Gesellschaft sogar finanzielle Vorteile bringen. Sie bräuchten nicht länger von der öffentlichen Hand versorgt werden. Zumindest die Hoffnung geht noch um, dass in unserer egozentrischen Ellenbogengesellschaft das Grundrecht auf Asyl gegen den Zeitgeist doch noch zu einem Genuss wird, wie es die Verfassung eigentlich verspricht.